Konstruktivismus und Gesellschaftstheorie

[Zunächst einige ungeordnete Notizen - das sind Thesen, die keine Endpunkte markieren, sondern eine Debatte überhaupt erst eröffnen sollen.]



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Die Grundprämisse des Radikalen Konstruktivismus lautet, daß Realität nur existiert, wenn es jemanden gibt, der sie beobachtet. Das Einzige, was man als gegeben annehmen kann, sei das Feuern der Neuronen im Gehirn. Alles andere, inklusive der Wahrnehmung der Sinne, sei ein Konstrukt, und alles, was uns als Objektivität entgegentritt, lediglich eine Projektion des subjektiven Bewußtseins. Erstaunlicherweise stammt diese Sichtweise von Vertretern der sog. „harten“ Naturwissenschaften, u.a. Kybernetiker und Physiker (Heinz von Förster), Mathematiker (Ernst v. Glaserfeld) und Biologen (Humberto Maturana). Damit ist dies ein erkenntnistheoretischer Ansatz, der die scheinbar unvereinbaren Welten von „harten“ Naturwissenschaften und „weichen“ Geisteswissenschaften unter einem gemeinsamen Dach zusammenzubringen verspricht.

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Der sog. „gesunden Menschenverstand“ steht vor diesem Konzept zunächst mit tiefstem Mißtrauen: wenn alles nur noch Konstrukt ist, wo bleibt dann die Wirklichkeit?

Dabei ist der Konstruktivismus lediglich eine weitere Stufe in der beständigen Demütigung des Menschen durch Theorien, die ihn immer weiter aus dem Zentrum der von ihm nur scheinbar beherrschten Welt drängen. Anfangs stand die Erde im Zentrum des Weltalls, und der Mensch war Ebenbild Gottes; bald darauf war die Sonne im Mittelpunkt eines Sternensystems am Rande der Milchstraße, und im 20.Jh befand man sich schließlich in einer unbedeutenden Galaxie unter Milliarden anderer. Auch das Selbstbewußtsein, das garantierte, daß der Mensch zu freiheitlichem, selbstbestimmten Handeln in der Lage war, rückte an den Rand: Freud zeigte, daß das „Ich“ keinesfalls „Herr im eigenen Haus“ ist, sondern von triebgesteuerten und gesellschaftlich vermittelten Instanzen geradezu in die Zange genommen wird.

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Konstruktivismus, Systemtheorie und linguistic turn vollziehen einen grundlegenden Bruch mit der Idee einer wie auch immer beschreibbaren „Objektivität“; damit auch der Idee einer wie auch immer erreichbaren „Wahrheit“; auch der letzte Versuch, hier noch etwas zu retten, Kants Wort vom „Ding an sich“, erweist sich als überflüssige Metaphysik.

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Der Konstruktivismus als Erkenntnistheorie ist für die Naturwissenschaften letztlich nur insofern interessant, als er ihren Gültigkeitsbereich – ein weiteres Mal – in die Schranken verweist. Für die Theorie der Gesellschaft stellen sich aber zwei grundlegende Fragen: wenn die Erkenntnisse nicht Spiegel der objektiven Welt sind: für wen sind sie? und aus welchem Grund, bzw genauer: aus welchem Interesse?

Luhmanns Theorie der sozialen Systeme stellt m.E. ein gutes Beispiel dar, wohin man kommt, wenn man einerseits zu wissen behauptet, daß jeder Beobachter der Gesellschaft nie neutral, sondern immer gleichzeitig ein Teil von ihr ist, andererseits aus einer professoralen Distanz die Dinge betrachtet: da entsteht eine vermeidliche Neutralität, die die Verhältnisse affirmativ fortschreibt, statt sie kritisch, d.h. in der Suche nach Alternativen, zu hinterfragen.



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Es gibt keine Realität ohne Beobachter.

Die Idee, daß es eine „Welt“ „da draußen“ gibt, die auch ohne uns Menschen ganz gut zurecht kommt, und deren objektiv gegebenes Funktionieren man nur immer besser verstehen muß, um es irgendwann vollständig und korrekt zu begreifen, ist letztlich eine metaphysische Konstruktion. Die Abstraktion einer Welt, die auch ohne die Anwesenheit von Menschen besteht, die sie beobachten, ist zwar möglich, aber letztlich inhaltsleer: man kann sie denken, daraus aber keine Rückschlüsse auf jene konkrete Welt ziehen, die uns tatsächlich gegenüber tritt. Mehr noch: man kann diese abstrakte und menschenleere Welt in keiner Weise auf unsere konkrete, von menschlichen Beobachtern beschriebene Welt in Beziehung setzten. Noch mehr: wir wissen über diese Abstraktion nur, daß man sie denken kann. Die Sprache, in der man über sie sprechen kann, kann nicht unsere Sprache sein, weil unsere Sprache der konkreten Welt entstammt.

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Es gibt keine Welt ohne Geschichte (das braucht keiner näheren Ausführungen, auch wenn in den Diskursen des Alltags diese simple Tatsache wieder und wieder vergessen wird).

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Beobachter, die Gesellschaft (oder soziale Systeme) beobachten, sind selber Bestandteil eben dieser Gesellschaft. Man kann sie als Beobachter erster Ordnung bezeichnen. Man kann solche Beobachter beobachten – das sind dann Beobachter zweiter Ordnung, die z.B. eine Geschichte der Philosophie schreiben und die Philosophien in Bezug auf ihr jeweiliges historisches Bezugssystem setzen.

Es gibt Beobachter, die von außen an ihren Gegenstand herantreten – Anthropologen etwa, die die Ordnung einer Gemeinschaft studieren, der sie selber nicht angehören. Dabei werden sie, mehr oder weniger, mit der Zeit selber Bestandteil des Gegenstands der Untersuchung und dadurch zu Beobachtern erster Ordnung.

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Die Wirklichkeit kann von unterschiedlichen Beobachtern beobachtet werden. Dadurch entstehen unterschiedliche Beschreibungen. Diese Beschreibungen unterscheiden sich zuweilen drastisch, ohne daß gesagt werden kann, welche Beschreibung „richtig“ wäre: die Unterscheidung zwischen „richtig“ und „falsch“ liegt nicht im Gegenstand selbst; vielleicht ist dies generell eine Unterscheidung, von der man sich nur wünscht, daß man sie machen könnte.

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Es gibt keine Beschreibungen (und damit auch keine Sprache) außerhalb der Einheit von Beobachter und Gegenstand.



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Es gibt ebenso viele Beschreibungen eines Sachverhalts, wie es Beobachter gibt. Eine Beschreibung kann in sich konsistent, logisch in ihrem Verhältnis zum Gegenstand sein, etc. - sie wird niemals „wahr“ in Bezug auf den Gegenstand sein, sondern allenfalls „richtig“ in Bezug auf das Interesse des Beobachters. - Die Beschreibung der wirtschaftlichen Verhältnisse aus den Augen eines Gewerkschafters unterscheidet sich erheblich von jener aus unternehmerischer Sicht. Trotzdem ist nicht die eine Sicht wahr, und die andere unwahr. Vielmehr – sofern es sich um jeweils ehrliche Analysen handelt, und nicht etwa um Statements im Sinne von politischer Lobbyarbeit für die Durchsetzung der eigenen Interessen – sind beide Positionen gleichermaßen richtig. - In der Praxis findet man nicht selten einander widersprechende Beschreibungen ein und desselben Sachverhalts durch verschiedene Beobachter, die gleichermaßen logisch, in sich konsistent etc. sind. Um Stellung zu beziehen, erklärt man sich mit einem der Beobachter solidarisch. Man teilt dessen Interessen.

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Es gibt Beschreibungen desselben Sachverstands, die sich im historischen Bezug unterscheiden. Dabei ist die historisch jüngere Position nicht „wahr“, und die ältere nun „unwahr“ und widerlegt. Sie sind beide immer nur „richtig“, und zwar in Bezug auf ihr historisches Koordinatensystem. - Die Beschreibung der Himmelsmechanik durch Keppler ist in sich konsistent, logisch etc.; sie ist jedoch nicht „wahr“ im Sinne von „wahr für alle Ewigkeit“; sie ist „richtig“ in Bezug auf Keppler und den Stand der Möglichkeiten bei der Beobachtung des Himmels, des Standes der Theorie etc., zu seiner Zeit. Dasselbe trifft zu für Einsteins Theorie – sie ist ein gutes Beispiel, wie eine wissenschaftliche Theorie ihren Vorgänger nicht einfach ersetzt, sondern entscheidend bereichert.



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Ohne Sprache gibt es kein Denken, kein Erinnern, kein Planen für die Zukunft. Dabei gibt es sehr wohl eine Wirklichkeit ohne Sprache, gewissermaßen vor bzw. jenseits menschlichen Denkens. Es gibt eine Ebene der kreatürlichen Erfahrung, für die es keine Sprache gibt, ja geben kann. In erster Linie meine ich hier die Erfahrungen von Schmerz und Hunger, die stattfinden, bevor man über sie spricht, und die im Verlauf der Diskurse eine merkwürdige Entfremdung erfahren: ein Opfer von Gewalt wird sich in all den Diskursen, die man über seine Erfahrung führt, nicht wiederfinden. In zweiter Linie geht es mir um bestimmte Fähigkeiten, die man erlernen kann, ohne daß man verstehen könnte, wie. Gemeint ist hier z.B. das motorische Vermögen, das man braucht, um Geige zu spielen, oder ein Motorrad zu fahren: man kann das, aber man kann nicht erklären, wie das geht.

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Eine Definition von Kommunikation, die darauf verzichtet, den Begriff der Herrschaft mitzuführen, greift entscheidend zu kurz. Zum einen ist herrschaftsfreie Kommunikation eine Utopie, ein bloßer Sonderfall all jener Diskurse, in denen ein Herrschaftsgefälle, ein Machtungleichgewicht existiert. Auch ein Befehl, der verstanden wird, ist, Luhmanns Definition zufolge, Kommunikation. Wenn man darüber hinweggeht und darauf verzichtet, die genaue Stelle zu beschreiben, in denen ein bestimmter Diskurs zwischen den Extremen „herrschaftsfreie Kommunikation“ auf der einen und „Befehl und Gehorsam“ auf der andere Seite stattfindet, blendet man die alles entscheidende Dynamik aus. - Zum anderen reproduzieren die Diskurse nicht einfach die sozialen Systeme, sondern bestätigen und verfestigen auch die Strukturen von Herrschaft. Dies geschieht (zumal in der Moderne) zum einen in den Diskursen um das Recht, in denen maßgeblich die Regeln für die konkrete Ausübung der Macht festlegt und durchgesetzt werden; zum anderen in all jenen Debatten, die sich um die Legitimität der jeweiligen Form von Herrschaft kümmern (und sich in erster Linie um Fragen der Moral drehen).



(Notizen)


[Grabbelkiste - Zitate und Blogeinträge, die ich nicht aus dem Auge verlieren will, obwohl sie in den laufenden Text nicht hineinpassen.]



Nominalismus


Die Wikipedia beschreibt das Grundproblem im sog. „Nominalismusstreit“ (dort bezeichnenderweise unter dem Stichwort „Universalienproblem“ abgelegt) folgendermaßen:

Begriffe haben die Funktion, Gegenstände, Vorgänge oder Eigenschaften zu kennzeichnen. Sie tragen eine Bedeutung, und jedermann wird anerkennen, dass der Satz „Die Rose ist rot.“ auf Wahrheit überprüft werden kann, also sinnvoll ist. Sowohl „Rose“ als auch „ist rot“ (sogenannte Prädikatsausdrücke) können auf mehrere Gegenstände bezogen werden. Allgemeine Anwendbarkeit gilt für alle Begriffe mit Ausnahme von Namen, die ein Besonderes, ein Individuum, vom Allgemeinen unterscheiden sollen.

Das ist die Formulierung des Problems komplett aus universalistischer Perspektive – es herrscht eben keine Einigkeit darüber, daß man prinzipiell objektiv entscheiden kann, ob Sätze wahr oder falsch sind; ebenso wenig wie über die These, daß Begriffe „Dinge” „bezeichen”.

Begriffe haben keine „Funktion“; sie haben eine eigene Wirklichkeit. Sprache ist nicht „bezogen“ auf eine äußere Welt, sondern die einzige Vermittlung zwischen den Menschen und der Welt. Die Welt dort draußen ist nicht etwas, was die Subjekte nur bezeichnen müssen, um ihrer habhaft zu werden – das „dort draußen“ ist keine ausgemachte Sache, über die man nur noch korrekte, „richtige“ Begriffe bilden müßte. Es ist ganz anders: den Subjekten bleibt nichts übrig, als mit Begriffen zu operieren, die sie irgendwie mit Wirklichkeit verbinden, die jedoch einer eigenen Logik folgen. Es gibt keine Objektivität jenseits von Sprache; die Menschen sind zum Sprechen verdammt.

In meiner Definition von Nominalismus (und im Rahmen dieser Definition zähle ich mich selber zum Verein) ist die sog. „objektive“ Wirklichkeit nur eine Möglichkeit; eine Welt knapp vor dem Horizont der Wahrnehmung der Sinne, aber erst hinter dem Operieren von Sprache.



Wittgenstein


[Augustinus sagt]: Die Wörter der Sprache benennen Gegenstände – Sätze sind Verbindungen von solchen Benennungen. – In diesem Bild von der Sprache finden wir die Wurzeln der Idee: Jedes Wort hat eine Bedeutung. Diese Bedeutung ist dem Wort zugeordnet. Sie ist der Gegenstand, für welchen das Wort steht.[…]

Wer das Lernen der Sprache so beschreibt, denkt, so möchte ich glauben, zunächst an Hauptwörter, wie »Tisch«, »Stuhl«, »Brot«, und die Namen von Personen, erst in zweiter Linie an die Namen gewisser Tätigkeiten und Eigenschaften, und an die übrigen Wortarten als etwas, was sich finden wird.[…]

Augustinus beschreibt, könnten wir sagen, ein System der Verständigung; nur ist nicht alles, was wir Sprache nennen, dieses System. Und das muß man in so manchen Fällen sagen, wo sich die Frage erhebt: »Ist diese Darstellung brauchbar, oder unbrauchbar?« Die Antwort ist dann: »Ja, brauchbar; aber nur für dieses eng umschriebene Gebiet, nicht für das Ganze, das du darzustellen vorgabst.«

Es ist, als erklärte jemand: »Spielen besteht darin, daß man Dinge, gewissen Regeln gemäß, auf einer Fläche verschiebt...« - und wir ihm antworten: Du scheinst an die Brettspiele zu denken; aber das sind nicht alle Spiele. Du kannst deine Erklärung richtigstellen, indem du sie ausdrücklich auf diese Spiele einschränkst.

(Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, PU 1-3)



Wittgensteins „Philosophische Untersuchungen“ sind keinesfalls die unlesbare Tretmühle, für die ich sie im Vorurteil hielt, nachdem ich beim „Tractatus“ irgendwann aufgegeben hatte. Ich finde hier Einsichten, die mich wiederholt unwillkürlich lächeln lassen – wie besonders gelungene Stellen in einer Erzählung, einem Roman.

Der Text folgt keiner stringenten Argumentation – das kann er auch gar nicht, weil er zeigt, daß Sprache sich den strikten Ansprüchen von Logik keinesfalls fügen kann, wie Wittgenstein das noch im „Tractatus“ vorführen wollte. Gleichzeitig ist die Abfolge der Paragraphen aber keinesfalls ungeordnet oder beliebig – sie ergibt Sinn, wie Sprache selber das tut, nämlich in einer gewußten, wenn auch nicht benennbaren Form.


Vergleiche: wissen und sagen:
wieviele m hoch der Mont-Blanc ist –
wie das Wort »Spiel« gebraucht wird –
wie eine Klarinette klingt.
Wer sich wundert, daß man etwas wissen könne, und nicht sagen, denkt vielleicht an einen Fall wie den ersten. Gewiß nicht an einen wie den dritten.

(Wittgenstein, PU 78)

Dieser Absatz läßt mich gerade nicht los: wenn ich mich wundere, daß man etwas wissen, aber nicht sagen kann, fällt mir zuerst der dritte Satz ein. – Oder ist gemeint, beim dritten Satz würde man sich gar nicht erst über das Auseinanderfallen von „Wissen” und „Sagen” wundern, sondern das für selbstverständlich halten? – obwohl dieser Sachverhalt auch für den ersten Satz gilt?


Wenn ich sage »N ist gestorben«, so kann es mit der Bedeutung des Namens »N« etwa diese Bewandtnis haben: Ich glaube, daß ein Mensch gelebt hat, den ich (1) dort und dort gesehen habe, der (2) so und so ausgeschaut hat (Bilder), (3) das und das getan hat und (4) in der bürgerlichen Welt diesen Namen »N« führt. – Gefragt, was ich unter »N« verstehe, würde ich alles das, oder einiges davon, und bei verschiedenen Gelegenheiten Verschiedenes, aufzählen. Meine Definition von »N« wäre also etwa: »der Mann, von dem alles das stimmt«. - Aber wenn sich nun etwas davon als falsch erwiese! – Werde ich bereit sein, den Satz »N ist gestorben« für falsch zu erklären, – auch wenn nur etwas mir nebensächlich Scheinendes sich als falsch herausstellt? Wo aber ist die Grenze des Nebensächlichen? – Hätte ich in so einem Fall eine Erklärung des Namens gegeben, so wäre ich nun bereit, sie abzuändern.

Und das kann man so ausdrücken: Ich gebrauche den Namen »N« ohne feste Bedeutung. (Aber das tut seinem Gebrauch so wenig Eintrag, wie dem eines Tisches, daß er auf vier Beinen ruht, statt auf dreien, und daher unter Umständen wackelt.)

Soll man sagen, ich gebrauche ein Wort, dessen Bedeutung ich nicht kenne, rede also Unsinn? – Sage, was du willst, solange dich das nicht verhindert, zu sehen, wie es sich verhält. (Und wenn du das siehst, wirst du manches nicht sagen.)

(Das Schwanken wissenschaftlicher Definitionen: Was heute als erfahrungsmäßige Begleiterscheinung des Phänomens A gilt, wird morgen zur Definition von »A« benützt.)

(PU 79)

Die beiden letzten Absätze fahren wirklich schweres Geschütz auf. Mir ist noch nicht ganz klar, mit welcher Munition es geladen ist – es steht aber außer Frage, daß es für so manche Position vernichtend ist.


Das Denken, die Sprache, erscheint uns nun als das einzigartige Korrelat, Bild, der Welt. Die Begriffe: Satz, Sprache, Denken, Welt, stehen in einer Reihe hintereinander, jeder dem andern äquivalent. (Wozu aber sind diese Wörter nun zu brauchen? Es fehlt das Sprachspiel, worin sie anzuwenden sind).

(PU 96)

Ich paraphrasiere: Satz, Sprache, Denken, Welt – das ist ja eine Folge von Wörtern, die man in einer unausweichlichen Verkettung vermutet. Da Wörter aber nur durch ihren Gebrauch Sinn ergeben, stellt sich die Frage nach dem Sprachspiel, in dem sie auftauchen. (Eine Antwort – der Wittgenstein vielleicht sogar zustimmen könnte – würde lauten: im Diskurs der Suche nach Transzendenz.)


Zwei weitere Fundstücke, die mir unmittelbar einleuchten, obwohl ich sie noch nicht (oder möglicherweise: nie) einordnen kann:

Augustinus (Conf. XI/14): »quid est ergo tempus? si nemo ex me quaerat scio; si quaerenti explicare velim, nescio.«(*) - Dies könnte man nicht von einer Frage der Naturwissenschaft sagen (etwa der nach dem spezifischen Gewicht des Wasserstoffs). Das, was man weiß, wenn uns niemand fragt, aber nicht mehr weiß, wenn wir es erklären sollen, ist etwas, worauf man sich besinnen muß. (Und offenbar etwas, worauf man sich aus irgendeinem Grunde schwer besinnt.)

(PU 89)
(*) „Was also ist »Zeit«? Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es; will ich es einem Fragenden erklären, weiß ich es nicht.“


Die Grammatik von »passen«, »können« und »verstehen«. Aufgaben:
1) Wann sagt man, ein Zylinder Z passe in einen Hohlzylinder H? Nur solange Z in H steckt?
2) Man sagt manchmal: Z hat um die und die Zeit aufgehört, in H zu passen. Welche Kriterien verwendet man in so einem Fall dafür, daß es um diese Zeit geschah?
3) Was betrachtet man als Kriterien dafür, daß ein Körper sein Gewicht um eine bestimmte Zeit geandert hat, wenn er damals nicht auf der Waage lag?
4) Gestern wußte ich das Gedicht auswendig; heute weiß ich's nicht mehr. In was für Fällen hat die Frage Sinn: »Wann habe ich aufgehört, es auswendig zu wissen«?
5) Jemand fragt mich: »Kannst du dieses Gewicht heben?« Ich antworte »Ja«. Nun sagt er »Tu's!« – da kann ich es nicht.

Unter was für Umständen würde man die Rechtfertigung gelten lassen: »Als ich antwortete ›Ja‹, da konnte ich's, nur jetzt kann ich's nicht«?

Die Kriterien, die wir für das ›Passen‹, ›Können‹, ›Verstehen‹ gelten lassen, sind viel kompliziertere, als es auf den ersten Blick scheinen möchte. D.h., das Spiel mit diesen Worten, ihre Verwendung im sprachlichen Verkehr, dessen Mittel sie sind, ist verwickelter – die Rolle dieser Wörter in unsrer Sprache eine andere, als wir versucht sind, zu glauben.

(Diese Rolle ist es, die wir verstehen müssen, um philosophische Paradoxe aufzulösen. Und darum genügt dazu gewöhnlich nicht eine Definition; und schon erst recht nicht die Feststellung, ein Wort sei ›undefinierbar‹.)

(PU 182; Umformatierungen von mir)



Gregory Bateson


Wahrnehmung bedeutet: zu unterscheiden.

Wo man immer dasselbe sieht, sieht man gar nichts; erst dort, wo man zwei Dinge voneinander unterscheidet, nimmt man wahr - egal, ob dies ein Geräusch, ein Geruch, oder ein Bild ist. (Bateson weist darauf hin, daß selbst dann, wenn man einen bestimmten Punkt scheinbar bewegungslos anstarrt, das Auge in permanenter mikroskopischer Bewegung ist – Mikrosakkade heißt das Fachwort)

Das Ziel jeder Wahrnehmung scheint jedoch, etwas zu identifizieren, d.h., als einmalig zu setzen - was nur in einem Akt der Unterscheidung möglich ist (wo man mindestens zwei - unterschiedliche - Dinge braucht).

Mit anderen Worten: der Mechanismus der Wahrnehmung widerspricht – auf einer fundamentalen Ebene – ihrem eigenen Ziel. Wo wir etwas sehen, unterscheiden wir ein Ding von seiner Umwelt; wo wir etwas benennen (was ja das Resultat jeder Wahrnehmung ist), heben wir eben diese Unterscheidung wieder auf, und erklären den beobachteten Gegenstand als in sich selbst identisch. Ein Tisch ist ein Tisch – als wenn er nicht in einem bestimmten Raum stünde und sich in seiner Differenz zum »Raum« erst definierte.

Ich sehe einen Vogel vor einer Naturkulisse – eine Möwe etwa, die über dem Bodensee segelt, mit den von einer späten Sonne überstrahlen Alpen im Hintergrund. Meine Wahrnehmung unterscheidet hier zwischen einem kleinen und zerbrechlichen Lebewesen, und setzt es ab von einem unendlich komplexen Hintergrund aus Felsen, Wasser, und millionenalter Geschichte.

Jede Wahrnehmung – Beobachtung – sortiert (unterscheidet), weil jeder Beobachter ein Interesse am von ihm Beobachteten hat. Die Möwe ist vielleicht deshalb so interessant (und damit überhaupt erst sichtbar vor der beeindruckenden, erschlagenden Kulisse), weil sie etwas kann, was ich nicht vermag: fliegen. Die Unterscheidung in der Wahrnehmung liegt nicht im Gegenstand, sondern im Interesse des Beobachters.

4 Kommentare

„Wahrnehmung bedeutet: zu unterscheiden.“

Das ist kein trivialer Satz – man landet hier aber unmittelbar gewissermaßen in der „Ursuppe“ der Erkenntnis, der Tautologie.

Consider:

!(A && !A) => Nicht (A und Nicht-A)

Gegen dieses Konstrukt gibt es nun gar nichts einzuwenden: wenn etwas ist, kann es unmöglich gleichzeitig nicht sein. Weil man gegen diesen Satz nichts einzuwenden hat, ist er gleichzeitig völlig überflüssig: eine Tautologie, und keine Differenz.

Consider:

!(A && B) => Nicht (A und B) (A || B) => Entweder A oder B

Dies sind zwei Herleitungen der Tautologie oben, die – neben den logischen Operatoren – zwei unterschiedliche „Dinge“ benennen: es gibt neben dem „A“ endlich auch ein „B“, und damit eine Differenz: damit hat man die Disziplin der reinen Logik verlassen, und befindet sich annähernd im wirklichen Leben.

(Ich hatte den Unterschied zwischen „passiver“ und „aktiver“ Negation schon zuvor am Wickel.)



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