10.5.2010

Unterscheiden und Benennen

(Themenstart)

Wahrnehmung bedeutet: zu unterscheiden.

Wo man immer dasselbe sieht, sieht man gar nichts; erst dort, wo man zwei Dinge voneinander unterscheidet, nimmt man wahr - egal, ob dies ein Geräusch, ein Geruch, oder ein Bild ist. (Bateson weist darauf hin, daß selbst dann, wenn man einen bestimmten Punkt scheinbar bewegungslos anstarrt, das Auge in permanenter mikroskopischer Bewegung ist – Mikrosakkade heißt das Fachwort)

Das Ziel jeder Wahrnehmung scheint jedoch, etwas zu identifizieren, d.h., als einmalig zu setzen - was nur in einem Akt der Unterscheidung möglich ist (wo man mindestens zwei - unterschiedliche - Dinge braucht).

Mit anderen Worten: der Mechanismus der Wahrnehmung widerspricht – auf einer fundamentalen Ebene – ihrem eigenen Ziel. Wo wir etwas sehen, unterscheiden wir ein Ding von seiner Umwelt; wo wir etwas benennen (was ja das Resultat jeder Wahrnehmung ist), heben wir eben diese Unterscheidung wieder auf, und erklären den beobachteten Gegenstand als in sich selbst identisch. Ein Tisch ist ein Tisch – als wenn er nicht in einem bestimmten Raum stünde und sich in seiner Differenz zum »Raum« erst definierte.

Ich sehe einen Vogel vor einer Naturkulisse – eine Möwe etwa, die über dem Bodensee segelt, mit den von einer späten Sonne überstrahlen Alpen im Hintergrund. Meine Wahrnehmung unterscheidet hier zwischen einem kleinen und zerbrechlichen Lebewesen, und setzt es ab von einem unendlich komplexen Hintergrund aus Felsen, Wasser, und millionenalter Geschichte.

Jede Wahrnehmung – Beobachtung – sortiert (unterscheidet), weil jeder Beobachter ein Interesse am von ihm Beobachteten hat. Die Möwe ist vielleicht deshalb so interessant (und damit überhaupt erst sichtbar vor der beeindruckenden, erschlagenden Kulisse), weil sie etwas kann, was ich nicht vermag: fliegen. Die Unterscheidung in der Wahrnehmung liegt nicht im Gegenstand, sondern im Interesse des Beobachters.

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