Die Konstruktion der Wirklichkeit

Qualität und Komplexität


Ich habe in den letzten Einträgen eine Reihe von Aspekten genannt, von denen man annehmen könnte, daß sie zur Beurteilung von Musik taugen, die dies aber letztlich nicht leisten können. Dabei bin ich eine positive Darstellung schuldig geblieben: mit welchem Verfahren kann man denn erkennen, ob ein Werk etwas taugt oder nicht? Was sind hier die Kriterien für „Qualität?” Der Grund ist recht einfach: solch ein Verfahren - solche Kriterien - gibt es m.E. nicht, mehr noch: das kann es auch gar nicht geben.

Die Frage lautet ja: wie läßt sich musikalische Qualität sinnvoll messen? Ich versuche es mit einer Analogie.

Wenn ich zwei Motorräder vor mir habe, und wissen will, welches davon schneller ist, hilft mir ein Blick auf die Motorleistung nur bedingt weiter – zu einer Aussage, die mehr ist als eine bloße Vermutung, kann ich so nicht kommen. Besser geht es, wenn ich die Maschinen auf eine Rennstrecke bringe, und dort einige Runden drehe. Dabei bin ich ja allenfalls ein mittelmäßiger Fahrer und gar nicht in der Lage, den Grenzbereich auszuloten – insofern ist die von mir gemachte Erfahrung ein Anhaltspunkt, aber kein Beweis. Der Sache komme ich schon sehr viel näher, wenn ich Valentino Rossi die Runden drehen lasse, oder besser noch, eine ganze Gruppe von Fahrern aus dem MotoGP-Zirkus. Wenn die dann übereinstimmend sagen, Maschine 1 ginge am Besten, habe ich ein Ergebnis, mit dem ich vollauf zufrieden bin.

Man kann einwenden, daß dies doch immer noch bloß eine Meinung ist, auch wenn die vielleicht von einem Experten vorgetragen und sogar von einer Gruppe geteilt wird. Objektiv nachgewiesen sei damit aber noch gar nichts. Warum, so läßt sich fragen, verwendet man nicht ganz einfach eine Stoppuhr?

Die Stoppuhr hilft hier jedoch überhaupt nicht weiter. Ihr Einsatz erweckt lediglich den Anschein von Objektivität und legt einen Schleier über das eigentliche Problem. Die Frage nach dem schnellsten Motorrad sollte man in seiner Komplexität nicht unterschätzen. Es geht hier keinesfalls nur um die Leistung des Motors, sondern generell um Eigenschaften im Fahrverhalten. Wie liegt die Maschine auf der Straße, wie reagiert sie auf Bodenwellen, wie präzise lassen sich die Bremsen dosieren?, etc.pp. Man stellt hier die Frage nach „Qualität“, die sich letztlich nicht in einzelne Teilaspekte herunter brechen läßt. Sicher – man kann mangelnde Dosierbarkeit der Bremsleistung korrigieren, indem man am Bremshebel schraubt – möglicherweise hat man aber die falschen Reifen aufgezogen. Wenn man diese wechselt, stimmt plötzlich etwas in den engen Kehren nicht, oder man hat zu wenig Gripp beim Herausbeschleunigen aus der Kurve. Etc.pp. – ein Motorrad ist ein klassisches Beispiel für eine nicht-triviale Maschine, deren Komplexität eine Analyse prinzipiell unmöglich macht.

Außerdem – und das ist der springende Punkt – hat man es hier mit der Geschicklichkeit von Menschen zu tun, die einfach dadurch, daß sie handeln, eine Maschine beherrschen, deren Funktionieren der Verstand nicht begreifen[1] kann. Zur Komplexität der Maschine kommt noch die Komplexität der Operationen hinzu, mit denen man sie bedient. Niemand kann konkret und in allen Einzelheiten erklären, was ein Rennfahrer eigentlich tut – dieser kann aber recht zuverlässig darüber Auskunft geben, welches Motorrad besser „geht”. Wenn ich dieser Auskunft des Fahrer mißtraue und zur Stoppuhr greife, ist es sogar möglich, daß er bewußt sein Tempo manipuliert, um mich vorzuführen, ohne daß ich dies bemerken könnte. Es bleibt mir gar nichts anderes übrig, als auf seine Expertise zu setzen – etwas Besseres ist schlicht nicht zu haben.

(Den Übertrag auf das Gebiet der Musik bleibe ich zunächst einmal schuldig.)

  1. [1] Im "Begreifen" liegt das "Greifen", das in diesem Fall der Hand bzw. dem Körper gelingt, nicht aber dem Verstand.
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Triviale und nicht-triviale Maschinen

Heinz von Förster

Heinz von Förster unterscheidet[1] zwischen trivialen und nicht-trivialen Maschinen. Bei einer trivialen Maschine gibt es einen direkten, klar erkennbaren Zusammenhang zwischen Ein- und Ausgabe – man steckt einen Wert herein, im Inneren der Maschine wird damit hantiert, und am Ende bekommt man für denselben Wert immer dasselbe Ergebnis. Ein gutes Beispiel ist das Getriebe im Auto oder Motorrad: man legt einen bestimmten Gang ein, und erhält ein spezifiziertes, immer gleiches Übersetzungsverhältnis zwischen Motor und Antriebsrad. Manche Lehrer scheinen anzunehmen, daß ihre Schüler sich wie triviale Maschinen verhalten: man steckt eine Frage hinein, und erhält die korrekte Antwort[2].

Beispiel 1

Tabelle: I

Das Programm[3] links ist ein Beispiel für eine denkbar einfache „triviale Maschine“. Den Buttons 1-4 sind die Buchstaben A-D zugeordnet; wenn man einen Button drückt, bekommt man immer dasselbe Ergebnis.

Beispiel 2

Tabelle: II

Das zweite Programm funktioniert ebenso – nur daß hier die Zuordnung seitenverkehrt ist. (Die Skripte sind rasch zusammengehauenes PHP - mit Javascript wäre sicherlich eine bessere Lösung machbar, bei der dieser Text dann nicht im Browser herumspringt.)

Nicht-triviale Maschinen (NTM) definieren sich dadurch, auf einen Input nicht nur einen Output zu produzieren, sondern auch ihren internen Zustand zu verändern. D.h., für denselben Input kann es einen anderen Output geben, je nach dem Zustand, in dem sich die Maschine gerade befindet.

Beispiel 3 (NTM)

Tabelle: I


Das dritte Programm ist ein denkbar simples Beispiel für eine NTM. Wenn man die „1“ drückt, erhält man ein „A“ - und das ändert sich (zunächst) nicht, sooft man den Button betätigt. Wenn man die „2“ drückt, erscheint ein „B“ - also alles im Rahmen des Erwarteten. Sobald man diesen Versuch wiederholt, erscheint aber plötzlich ein „C“. Wer jetzt völlig verunsichert noch einmal auf die „1“ drückt, um sich selber zu bestätigen, daß hier doch alles mit rechten Dingen zugeht, bekommt auf einmal ein „D“ - spätestens jetzt wird manch ein Versuchsleiter die Vermutung äußern, daß die Ergebnisse purer Zufall sind.

In Wirklichkeit ist das Verhalten komplett deterministisch. Durch das Betätigen der Buttons wird nicht nur das Ergebnis geliefert, sondern gleichzeitig der interne Status verändert - das Programm benutzt nicht nur eine, sondern zwei unterschiedliche Tabellen, zwischen denen durch den Input gewechselt wird. Das sind die beiden Tabellen aus den ersten beiden Programmen, wobei die Eingabe von „1“ und „3“ auf Tabelle 1 schaltet, „2“ und „4“ auf Tabelle 2, und zwar nachdem das Ergebnis berechnet wurde.

Wenn man eine Weile mit dem Progrämmchen herumspielt, kann man wesentlich besser verstehen, worum es geht, als wenn ich hier weiter lange Erklärungen versuche.

Schüler – um auf die Einleitung zurückzukommen – verhalten sich natürlich als nicht-triviale Maschinen[4]. Eine Frage in einer Prüfungssituation, in welcher der Proband ohnehin schon nervös ist, kann dazu führen, daß sich plötzlich pure Panik breit macht, und alle gut gelernten Antworten hinter einem Nebel verschwimmen. Der Input stößt hier zunächst eine Veränderung des Status der „Maschine“ an, so daß ihr Output nur indirekt etwas mit dem Input zu tun hat. Es ist nicht Frage -> Antwort, sondern Frage -> Panik -> Antwort.

Auch das Mensch-Motorrad-System kann man sich als NTM vorstellen, bei der ein Input von Seiten des Fahrers mit einer Reaktion beantwortet wird, die nicht nur in eine klar kalkulierbare Richtung wirkt, sondern das gesamte System neu einstellt. Ein Zug am Gasgriff bewirkt nicht nur eine Beschleunigung nach vorne, sondern u.U. auch ein ausbrechendes Hinterrad, usf.

Generell stellt sich bei NTM das Problem der Analysierbarkeit, weil – selbst mit wenigen Ein- und Ausgabeparametern – eine erstaunlich hohe Anzahl möglicher Zustände erreicht wird[5]. Das Reverse-Engineering[6] einer solchen Maschine ist in vielen Fällen nicht möglich – man muß zu statistischen Methoden greifen, um die Funktionsweise zumindest näherungsweise zu bestimmen. Schon das simple Beispiel oben ist gar nicht so einfach zu knacken, wenn man keinen Anhaltspunkt hat. Wenn man die Zahl der Tabellen von 2 auf 4 erhöht, dürfte man praktisch keine Chance mehr haben, das Rätsel zu lösen, wenn man gar keine Vermutung hat, welcher Mechanismus den Input mit dem Output verbindet.

Ich belasse es mal bei der Klärung der Begriffs der „nicht-trivialen Maschine“, wobei sich eine ganze Reihe von Überlegungen für den Anschluß fast schon von alleine aufdrängen.

  1. [1] Heinz von Förster: Entdecken oder Erfinden. In: Einführung in den Konstruktivismus. München 2009, S.59ff.
  2. [2] Wenn diese Gleichung nicht aufgeht, glaubt man, es mit einer fehlerhaften Maschine zu tun zu haben, und reagiert mit Sanktionen.
  3. [3] Ich habe eine eingedampfte Version der drei Beispiele gebastelt, die man nach Belieben weiterverwenden kann.
  4. [4] Eigentlich wäre es ja die Aufgabe der Lehrer, diese - eher triviale - Komplexität zu durchschauen, und sie nicht in Form schlechter Zensuren den Schülern aufzudrücken.
  5. [5] Heinz v. Förster (a.a.O., S.65) kommt auf ganz erstaunliche Zahlen - 28192 Zustände für eine NTM, die gerade einmal über 4 Eingabe/Ausgabe-Symbole verfügt. Ich gebe zu, daß ich nicht recht nachvollziehen kann, wie er auf diese Zahl kommt. Sie ist aber schon extrem hoch, wenn man bedenkt, daß das Universum gerade erst 3*1023 Millisekunden alt ist!
  6. [6] Ich finde keinen Link, der den Begriff ordentlich erklärt. Der Artikel in der Wikipedia ist mE kompletter Crap.


Training; Musik als Sprache


Als ich kürzlich einen Aufsatz von Heinz von Förster las, in dem er u.a. nicht-triviale Maschinen (NTM) erklärt, war ich intuitiv der Meinung, daß man mit diesem Konzept einige prinzipielle Fragen im Zusammenhang mit „Komplexität” klären könnte. Ich wollte den Begriff der NTM hier im Blog vorstellen, und hatte die Idee, daß ich, wenn ich schon einfach nur die Beispiele H. von Försters wiederkaue, sie zumindest in Software übersetzen sollte. Schon beim Basteln am Skript wurde mir klar, daß die Idee einer NTN längst nicht so spannend ist, wie sie mir anfangs erschien, und als ich dann beim Testen meines „Programms” kapierte, wie die Zusammenhänge aussehen, fand ich sie dann eher - nun: trivial. Man kann eine NTM vielleicht nicht ohne weiteres nachbauen. Man bekommt aber rasch einen Einblick in ihr Funktionieren, wenn man ihr mit Statistik zu Leibe rückt. Wenn es um Kryptografie geht, würde ich von ihrer Verwendung jedenfalls absehen - so kryptisch ist das Konstrukt nämlich gar nicht.

Auch das Motorrad-Beispiel haut in dieselbe Kerbe - ich will dort deutlich machen, daß es Bereiche gibt, die dem analytischen Verstand nicht ohne weiteres zugänglich sind (wenn das dort überhaupt geht), und man sich ihnen nur über aktives Handeln nähern kann. Beim Nachdenken über ein mathematisches Problem erweist es sich als hilfreich, dieses in Software zu nachzubauen, und beim Nachdenken über die Fahreigenschaften eines Motorrads setzt man sich am besten oben drauf und läßt den Motor an.

Ähnliches gilt für Musik. Es dürfte außer Frage stehen, daß man ein Instrument nur lernt, indem man übt. Ich gehe einen Schritt weiter und behaupte, daß man auch das Hören üben muß. Wie beim Erlernen eines Instruments ist es durchaus hilfreich, sich theoretisch mit Harmonielehre, Kontrapunkt, etc zu beschäftigen - mehr noch, all dies ist unerläßlich. Dennoch muß man sich mit konkret erklingender Musik auseinandersetzen, um eben Musik, und nicht bloß nachträglich von Theoretikern zusammengetragene Formalismen zu lernen.

Ich habe schon öfters darauf verwiesen (z.B. im Klang-Baukasten), daß das Ohr nicht „einfach” funktioniert - man hört mit dem Gehirn. Was die Ohren übermitteln, ist chaotischer Klang, den das Gehirn dann in strukturierte Musik übersetzen muß. Dabei verhält es sich bei der Wahrnehmung von Musik ähnlich wie mit der Dekodierung von Sprache. Eine Sprache, deren Wörter und Grammatik ich nicht erlernt habe, bleibt für mich unstrukturierter Klang. Wenn ich aber ihre Syntax und Semantik kenne, verstehe ich unmittelbar ihren Sinn. Ich könnte zwar auf Nachfrage erklären, welche Funktion bestimmte Wörter haben - ob dieses das Substantiv und ein anderes ein Pronomen ist, etwa. Normalerweise muß ich darüber aber nicht nachdenken, sondern befinde mich unmittelbar auf der Ebene des durch Sprache übermittelten „Sinns” (was auch immer das dann konkret ist).

Beim musikalischen Hören funktioniert das ähnlich. Wie Sprache muß man die musikalische Sprache erst erlernen - und das kann man nur, indem man übt, sprich: aktiv hört. Wie bei der Sprache bewegt sich ein geübter Hörer (meiner Erfahrung nach) dann auf der Ebene des „musikalischen Sinns” (was auch immer das sei). Die Frage nach den Kriterien musikalischer Qualität stellt sich hier gar nicht mehr - man kann auf Anhieb (ok - da gibt es schon Einschränkungen) erkennen, ob die Musik Sinn ergibt, oder ob da jemand vor sich hinbrabbelt, der die Sprache nicht richtig beherrscht. Tatsächlich ist es (nochmals: meiner Erfahrung nach) so, daß Hörer auf einem ähnlichen Level musikalischen Trainings zu überraschend übereinstimmenden Urteilen gelangen - wenn sie denn willens sind, negative Urteile von einem mangelnden Interesse zu trennen, eine bestimmte Musikrichtung zu erlernen. Adornos Kritik am Jazz hat nichts mit seiner intellektuellen Kompetenz, aber alles mit fehlendem Training beim Hören zu tun. Ich selber sitze komplett ratlos vor HipHop, Techno etc. (alle Stile mit einem durchlaufenden Beat vom Computer), weil ich es nicht über mich bringe, lange und konzentriert genug solcher Musik zuzuhören.



Kant


Offensichtlich ist es so, daß dasselbe Stück Musik von unterschiedlichen Hörern jeweils anders wahrgenommen und gewertet wird. Dabei sollte man meinen, daß sich ein gegebenes Werk überindividuell deuteten läßt, sobald man es objektiv analysiert. Um diesen Widerspruch zu erklären, habe ich kürzlich eine Dialektik zwischen strukturellen und klanglichen Aspekten behauptet. Ausgangspunkt der Wahrnehmung von Musik ist, diesem Konzept zufolge, der Klang, hinter dem sich die Struktur – Form, Harmonik, Rhythmik – versteckt, die nur mit trainierten Ohren zugänglich sei. Dabei habe ich ein Modell der Wirklichkeit verwendet, welches – gut hegelianisch – auf einer Dialektik zwischen Subjekt und Objekt basiert. Die Ergebnisse, die sich aus diesem Ansatz ergeben, finde ich bisher jedoch wenig befriedigend.

Die Frage ist, wohin man kommt, wenn man sich von Hegel verabschiedet und Kant folgt - wenn man also davon ausgeht, daß jede Realität erst vom Betrachter erzeugt wird. Kant formuliert diesen Standpunkt mit oft zitierten Worten wie folgt:

Bisher nahm man an, alle unsere Erkenntnis müsse sich nach den Gegenständen richten, aber alle Versuche über sie a priori etwas durch Begriffe auszumachen, wodurch unsere Erkenntnis erweitert würde, gingen unter dieser Voraussetzung zunichte. Man versuche es daher einmal, ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik damit besser fortkommen, daß wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserem Erkenntnis richten, welches so schon besser mit der verlangten Möglichkeit einer Erkenntnis derselben a priori zusammenstimmt, die über Gegenstände, ehe sie uns gegeben werden, etwas festsetzen soll. Es ist hiermit ebenso, als mit den ersten Gedanken des Kopernikus bewandt, der, nachdem es mit der Erklärung der Himmelsbewegungen nicht gut fort wollte, wenn er annahm, das ganze Sternenheer drehe sich um den Zuschauer, versuchte, ob es nicht besser gelingen möchte, wenn er den Zuschauer sich drehen, und dagegen die Sterne in Ruhe ließ.

(Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft. Hervorhebung von mir.)

Nichts anderes besagt die Grundprämisse des Radikalen Konstruktivismus, wo man davon ausgeht, daß Realität nur existiert, wenn es jemanden gibt, der sie beobachtet. Das Einzige, was man als gegeben annehmen kann, sei das Feuern der Neuronen im Gehirn. Alles andere, inklusive der Wahrnehmung der Sinne, sei ein Konstrukt, und alles, was uns als Objektivität entgegentritt, lediglich eine Projektion des subjektiven Bewußtseins.

Das eigentlich Erstaunliche an dieser Sichtweise ist, daß sie von Vertretern der sog. „harten“ Naturwissenschaften vorgetragen wird, unter ihnen Kybernetiker und Physiker (Heinz von Förster), Mathematiker (Ernst v. Glaserfeld, der als Begründer des Radikalen Konstruktivismus gilt) und Biologen (Humberto Maturana). Dabei hat es mich bei der ersten Begegnung mit dem Konstruktivismus zuerst geärgert, danach amüsiert, mit welcher Arroganz hier behauptet wird, es mit einer völlig neuen Sichtweise der Dinge zu tun zu haben, die die bisherige 2500jährige Tradition der Philosophie angeblich radikal hinweg fegt. Die von v.Glaserfeld et al. oft wiederholte Behauptung, die Argumente des Konstruktivismus seien so schwer nachzuvollziehen[1], weil dort mit jeder zuvor gebräuchlichen Sichtweise gebrochen werde, kommt wohl zustande, weil man dort noch immer glaubt, das einzige konkurrierende Weltbild stamme aus dem 19.Jh. und werde von den Naturwissenschaften vertreten[2]. Man sieht wohl die Leistung Kants, kann sie aber nicht wirklich einordnen - man sieht in Kant lediglich einen Vorgänger, der immer noch damit beschäftigt scheint, einen letzten Rest des Begriffs von Objektivität zu retten (in dessen Rede vom "Ding an Sich").

Mit dieser Arroganz der Konstruktivisten einher geht eine merkwürdige Attitüde der moralischen Überlegenheit, wie sie sich nicht nur bei H.v.Foerster gelegentlich in der Argumentation findet - z.B. in diesem oft zitierten Statement:

Objectivity is a subject's delusion that observing can be done without him. Invoking objectivity is abrogating responsibility, hence its popularity.

(Heinz v. Förster)

Dieses vorausgeschickt, halte ich den Radikalen Konstruktivismus für einen viel versprechenden Ansatz, der die scheinbar unvereinbaren Welten von „harten“ Naturwissenschaften und „weichen“ Geisteswissenschaften unter einem gemeinsamen Dach zusammenzubringen verspricht. Mir fehlen zwar – zumindest in dem, was ich bisher über das Thema gelesen habe – einige zentrale Kategorien, ohne die man m.E. nicht auskommt, wenn man die Wirklichkeit als ein Konstrukt jener beschreiben will, die sie beobachten (u.a. Erkenntnisinteresse des Beobachters, sein Eingebundensein in geschichtliche und soziale Prozesse, etc.). Es spricht aber nichts gegen den Versuch, diese Kategorien in den Theorieentwurf nachträglich einzubauen.

Was ich im Folgenden zu dem Thema zu sagen habe, hat immer die Frage im Hintergrund, welcher Zusammenhang zwischen dem Prozeß des Hörens auf der einen und Musik auf der anderen Seite besteht. Die Frage danach, wie unsere Sinne - oder vielmehr das Gehirn - die Konstruktion der Realität bewirken, ist für mich immer auch jene nach der Konstruktion von Musik durch ihre Wahrnehmung mit dem Ohr.

  1. [1] Das ist eine Behauptung, die ich überhaupt nicht nachvollziehen kann - ich jedenfalls habe überhaupt keine Probleme, die konstruktivistische Sichtweise zu verstehen.
  2. [2] Albert Einstein, Kurt Gödel, Werner Heisenberg werden genannt, werden aber - wiederum - als Vorläufer gewissermaßen kalt gestellt. Es wundert mich wenig, daß Sigmund Freud in diesem Zusammenhang nirgendwo erwähnt ist.
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Das Versagen der Sinne


Man stelle sich vor, man sei an der Stelle eines Piloten, der bei schlechtem Wetter für sein Flugzeug eine Route zum nächsten Landeplatz sucht. Wenn er durch das Frontfenster sieht, ist außer Dunkelheit und Nebel nichts zu erkennen, so daß er sich komplett auf die Instrumente verlassen muß – Höhenmesser, künstlicher Horizont, und Kompaß. Bei der Maschine handelt es sich um ein großes Verkehrsflugzeug, bei dem man den Kurvenflug nicht spüren kann, weil man nur unwahrnehmbar von der Fliehkraft in den Sitz gedrückt wird. In dieser Situation gibt es keinerlei Hinweis, ob man sich in einem Flugzeug befindet, das einen echten Himmel durchstreift, oder nur im Simulator.

Wenn man die Instrumente durch die menschlichen Sinnesorgane ersetzt, bekommt man eine Vorstellung, wie es um das Gehirn bestellt ist. Es ist letztlich nicht in der Lage, festzustellen, ob die übermittelten Sinnesreize tatsächlich aus der Umwelt stammen, oder nur simuliert – vorgestellt – sind. Schlimmer noch – während der Pilot davon ausgehen kann, daß seine Instrumente korrekte Werte liefern, macht man die Erfahrung, daß die Sinne höchst unzuverläßlich funktionieren und immer wieder widersprüchliche oder fehlerhafte Daten übermitteln. Wenn man den Gedanken zu Ende spinnt, landet man beim Solipsismus, wo alle Realität verneint wird und man glaubt, daß alle Wirklichkeit auf die eigene, innere Vorstellung beschränkt ist. Tatsächlich kann man diese Idee nicht widerlegen, sondern allenfalls als unpraktisch zurückweisen. Wenn man einen anderen Menschen nach seiner Selbstwahrnehmung befragt, wird man erfahren, daß dieser die Erfahrung des in sich selber eingeschlossen Seins teilt. Das verhält sich ungefähr so, wie ein Bewohner des Planeten Erde und einer der Venus beide der Meinung sein können, die Sonne kreise um ihren Planeten - unter der Voraussetzung, daß sie sich niemals begegnen. Wenn sie aber nach einem gemeinsamen Standpunkt suchen, werden sie - hoffentlich! - das Zentrum des Planetensystems dorthin verlegen, wo es für all seine Bewohner identisch ist: in die Heliozentrik[1].

Wenn man annimmt, daß es so etwas wie eine außerhalb des Gehirns existierende Wirklichkeit gibt, hat man das Problem, daß man nur etwas von der eigene Sinneswahrnehmung weiß, aber nichts über die objektive Welt da draußen sagen kann. Kleine Kinder gehen davon aus, daß Dinge, die sich außerhalb ihres Gesichtsfeldes befinden, auch nicht existieren. Erst im Lauf der ersten beiden Lebensjahre stellt sich die Gewißheit ein, daß ein Ding auch dann noch da ist, wenn man sich von ihm weg dreht. Das liegt aber nicht daran, daß das Baby unrecht hatte und das Kleinkind es jetzt ganz anders und vor allem richtig weiß – es ist schlicht praktisch, wenn man von einer stabilen und in sich konsistenten Welt ausgeht. In Wirklichkeit weiß man nichts davon, was z.B. wenige Häuserblocks jenseits der eigenen Wohnung vor sich geht, solange man sich dort nicht umschaut. Womöglich hat man dort mittlerweile die Fassaden neu gestrichen, oder gar den ganzen Straßenzug abgerissen.

Ein weiteres Problem ist die mehrfache Beschränktheit der Sinne. Zum einen ist klar, daß wir nur einen kleinen Ausschnitt der existierenden Daten direkt aufnehmen können. Unsere Ohren erfassen nur einen eingeschränkten Frequenzbereich, und das Auge nimmt nur ein schmales Spektrum in den Grenzen zwischen Ultraviolett und Infrarot wahr.

Zum zweiten sind die Sinne keineswegs neutrale Empfänger, die einfach bloß weitergeben, was ihnen objektiv entgegen tritt. Man macht immer wieder die Erfahrung, daß man Dinge sieht und hört, die nicht existieren, oder aber solche nicht sieht oder hört, obwohl sie bei nochmaligem Nachhaken definitiv vorhanden sind. (Ein eindrucksvolles Beispiel für letzteres bietet das unten angehängte Video. - Es gibt zahllose Beispiele für das Versagen der Ohren bei der Wahrnehmung von Musik; darauf komme ich später noch zurück.)

Das dritte Problem schließlich ist viel gravierender. Mit den Augen sieht man keine Gegenstände, sondern nimmt Lichtwellen entgegen. Den kompletten Rest – den Umstand, daß wir Menschen, Häuser, Landschaften etc.pp wahrnehmen – konstruiert der Verstand.

  1. [1] Vergl. Heinz v. Förster, aaO, S.?.



Sie ließen die Versuchspersonen mit der abgebildeten Apparatur drei Mal den gleichen Kaffeeduft riechen, wobei sie vorgaben, jeder Kaffee sei in einer anderen Kaffeemaschine erzeugt worden. Die Versuchspersonen kamen zu dem vorhersehbaren Ergebnis, dass der Kaffee aus der teuren, modernen Kaffeemaschine am besten röche, der aus der billigsten am schlechtesten.

Quelle (Wille versus Kausalität)

Das ist ein hübsches Beispiel für die These, daß jede Wahrnehmung der Sinne vom Gehirn erst produziert wird. Dabei muß ich zugeben, daß ich nur auf die Gelegenheit warte, mal ein Glas richtig teuren Wein aus dem Bordeaux zu probieren - Lafite, Latour, Mouton, Margaux, Haut-Brion, to name the few.

Ich stelle mir vor, daß es ein einmaliges Erlebnis sein muß, das Versagen der Mechanismen der eigenen Wahrnehmung unter Höchstbelastung zu erleben.

Ein 20 Jahre alter Margaux (für mindestens €500,-) schmeckt mit großer Wahrscheinlichkeit sensationell gut, aber eben nicht um den Faktor 50 besser als ein Bordeaux für €10,- vom gut informierten Weinhändler gleich um die Ecke. Von dieser Vermutung gehe ich zumindest aus, wenn ich dennoch nicht widerstehen kann. Das hat mit dem Verhältnis zwischen Preis und Prestige nichts zu tun - ich bezahle den Preis und mache das Experiment vielleicht irgendwann, ohne irgend jemand davon zu erzählen.

Wahrscheinlich wache ich - nach der Weinprobe - dann am nächsten Morgen mit dickem Kopf auf und frage mich, warum ich eine dreistellige Summe dafür ausgegeben habe, nur um nachzuweisen, daß ich mich selber so leicht nun auch wieder nicht betrügen kann.

Anders gesagt: es ist relativ einfach, sich über übersimplifizierte Versuchsaufbauten zu echauffieren. Wenn man jedoch sich selbst mitten in solch einem Experiment wiederfindet, ist es gar nicht mehr einfach, den nötigen Abstand herzustellen. Mehr noch: die Aufforderung, gefälligst einen Schritt zurück zu treten, um das eigene Treiben kritisch zu besichtigen, ist eine veritable Drohung. Wer diese Drohung dann auch noch beiseite schiebt, generiert nicht zuletzt einen Stolz auf den Sieg über die eigene Angst, der ggf. dazu führt, die Bedeutung dieses „Schritt zurück” gründlich zu überschätzen. Usf.

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Wissenschaftliche Theorien


Heinz von Förster listet einige Begriffe auf[1], und stellt die Frage, ob man es bei ihnen mit Entdeckungen oder vielmehr Erfindungen zu tun habe:

  • Ordnung
  • Zahlen
  • Formeln
  • Symmetrien
  • Naturgesetze
  • Gegenstände
  • Taxonomien

Förster behauptet, daß ein Konstruktivist geneigt sei, sie tendenziell für Erfindungen zu halten. Dieser Definition zufolge gehöre ich ganz klar selber zum Verein – ich halte diese Begriffe ausnahmslos für Projektionen menschlichen Denkens, nicht jedoch für Entdeckungen, die objektiv in der Wirklichkeit existieren.

Die Nagelprobe kann man wohl machen, wenn man sich den Begriff „Naturgesetz” ansieht. Ist denn z.B. „Gravitation” nicht ein Gesetz der Physik, das zu allen Zeiten und an allen Orten existiert, und zwar unabhängig davon, ob ein menschlicher Beobachter dieses Gesetz kennt, und unabhängig vom individuellen Glauben? Tatsächlich würde ein Naturwissenschaftler des 19.Jh diesen Standpunkt vertreten, und auch unser alltägliches intuitives Wissen würde spätestens hier von einer Entdeckung, nicht aber von einer Konstruktion sprechen. Die modernen Naturwissenschaften sind aber bereits weiter, und beschäftigen sich damit, die vier Grundkräfte der Physik – Gravitation; schwache, starke, elektromagnetische Wechselwirkung – unter ein gemeinsames (mathematisches) Dach zu bringen. Würde ich in hundert Jahren noch leben, wäre ich bereit, einen hohen Betrag darauf zu wetten, daß unsere heutige Vorstellung von dem „Grund”, durch den ein Gegenstand zu Boden fällt, dann nur noch ein müdes Lächeln auslöst – ebenso, wie ein heutiger Physiker Keplers Darstellung der Himmelsmechanik für ein übersimplifiziertes und durch Einstein widerlegtes Konzept hält.[2]

Allgemein gesprochen, sind alle wissenschaftlichen Theorien Modelle, die eine Beobachtung vorläufig erklären können. Wissenschaftlich sind sie nur dann, wenn sie prinziell falsifizierbar sind – das Prinzip der Falsifizierbarkeit unterscheidet sie von Glaubenssätzen. Wenn man diese Unterscheidung mitmacht, muß man noch einen Schritt weitergehen und sagen, daß Theorien ihren Charakter als „wissenschaftlich” letztlich erst dann beweisen, wenn man sie de facto falsifiziert. Über ihre Richtigkeit hingegen läßt sich prinzipiell nichts sagen. Man kann über ihren Wert erst dann eine Aussage treffen, wenn bewiesen wird, daß sie falsch sind.[3]

Diese Vorstellung gilt nicht nur für wissenschaftliche Theorien, sondern betrifft unser gesamtes Weltbild. Unsere Sinne können uns keinen Einblick in die objektive Beschaffenheit der Welt geben, sondern konstruieren lediglich einen Zusammenhang, den man niemals positiv bestätigen, allenfalls irgendwann als falsch erkennen und verwerfen kann. Ernst von Glasersfeld hat dafür eine eindrückliche Metapher[4]: die Suche nach Wahrheit entspricht dem Vorgehen eines blinden Wanderers, der seinen Weg durch einen eng bewachsenen Wald sucht. Immer, wenn er auf ein Hindernis stößt, weiß er, daß er seinen Weg ändern muß. Über die Bäume kann er aber nichts anderes wissen, als daß sie Hindernisse sind.

  1. [1] Einführung in den Konstruktivismus, München 2009, S.45f.
  2. [2] Das ist insofern wiederum eine Simplifizierung, weil Kepler nicht falsch ist, sondern im großen und ganzen völlig richtig liegt. Einstein vertritt zwar ein völlig anderes Bild von der Welt, ist aber letztlich nur graduell „wahrer”. Paradoxerweise kann man mit Keplers Gesetzen den Kurs eines Raumschiffs in die Nachbargalaxie berechnen, nicht jedoch die Funktionsweise einer GPS-Navigation im heutigen Alltag erklären.
  3. [3] Ich habe zu dem Thema bereits Grundsätzliches gesagt.
  4. [4] AaO, S. 19

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Kausalität


Wenn man davon ausgeht, daß Menschen nicht einfach eine objektiv gegebene Wirklichkeit wahrnehmen, sondern sie erst konstruieren, kann man erklären, warum im Lauf der Jahrtausende derart unterschiedliche Entwürfe der Welt entstehen konnten. Es ist ja nicht so, daß die Menschen im Mittelalter im großen und ganzen so gedacht haben, wie wir dies heute tun, nur, daß sie halt ein paar unsinnige Konzepte wie die einer ca. sechstausend Jahre alten und von Gott in sieben Tagen geschaffenen Welt hatten. Das ist ein Bild, wie es vielleicht in den zur Zeit so modischen historischen Romanen gepflegt wird, das aber absolut nichts mit den tatsächlichen Verhältnissen zu tun hat. Mit einem mittelalterlichen Menschen verbindet uns fast nichts mehr, und in dessen Vorstellungswelt kann man sich heute höchstens behelfsmäßig versetzen. Dasselbe gilt auch für alle anderen Zeiten. Selbst der Lebens- und Vorstellungswelt der Generation unserer Großeltern kann man letztlich nicht mehr nahe kommen, von jener aus ganz entfernten Epochen ganz zu schweigen.[1]

All diesen Entwürfen ist aber zumindest eines gemeinsam: sie versuchen, die Welt zu einem berechenbaren Ort zu machen, wo man sich nicht von einem Zufall zum nächsten hangelt, sondern die eigenen Bedürfnisse möglichst gezielt befriedigen kann. Eine der ersten Lektionen, die ein Baby lernt, ist die merkwürdige Tatsache, daß ein „Ding” auch dann noch da ist, wenn man gerade nicht hinsieht. Dabei ist die Welt aber nicht statisch, sondern verändert sich ständig. Das Gesicht der Mutter z.B. sieht völlig anders aus, je nachdem, ob es freundlich oder böse blickt. Die beobachtete Umwelt verändert sich im Lauf des Tages mit dem Schatten, den die Sonne wirft, und selbst Dinge, die man in der Nacht nicht sehen kann, sind möglicherweise nachts noch im Weg. Der Konstruktion einer in sich konsistenten Welt steht eigentlich alles entgegen – es ist ein veritables Wunder, daß sie dennoch gelingt.

Diese Konsistenz ist nicht unmittelbar erfahrbar, sondern muß erst konstruiert – gelernt[2] – werden. Allererstes Hilfsmittel hierfür ist die Suche nach Ursachen – warum hat sich das Gesicht der Mutter verändert? warum verschwindet in der Nacht das Licht? etc.pp. Wenn man die Ursache einer Veränderung weiß, kann man eine veränderte Beobachtung mit demselben „Ding“ verbinden. Fehlt dieses Bindeglied, muß man zwei aufeinander folgende Beobachtungen verschiedenen Dingen zuordnen. Tatsächlich basiert die gesamte Konstruktion der Wirklichkeit auf der Unterscheidung, ob sich zwei unterschiedliche Beobachtungen auf dasselbe Objekt oder zwei verschiedene Objekte beziehen. Je mehr Dinge ich als identisch identifizieren kann, desto stabiler ist mein Umfeld, und je mehr Ursache-Wirkung-Beziehungen ich bilde, desto besser ist meine Fähigkeit, zukünftige Ereignisse vorauszusagen bzw. die Folgen meines Handelns abzuschätzen. Beides ist ursächlich für die Fähigkeit, in einer ständig sich verändernden Welt zu überleben.

Die Suche nach – oder vielmehr die Konstruktion von – Kausalität ist nicht auf den Menschen beschränkt, sondern gehört wohl zum Grundbestand jedes mit einem Gehirn ausgestatteten Tieres. Bei Tauben hat man dies vor mehr als fünfzig Jahren eindrucksvoll nachgewiesen, als B.F.Skinner sie in die nach ihm benannten Skinner-Boxen sperrte.

  1. [1] Ich will auf einen anderen Punkt hinaus und schweife ab - auf den gerade angerissenen Zusammenhang komme ich später zurück.
  2. [2] „Konstruktion“ und „Lernen“ sind m.E. zwei Seiten derselben Medaille - auch dazu später mehr.



Skinner setzte je eine Taube in eine, nun nach ihm benannte, ,Skinner-box'. Das ist eine Schachtel, in die man hineinsehen kann, die dem eingesperrten Tier aber nur jene Nachrichten von außen zukommen läßt, die der Experimentator absichtlich in sie hineinschickt. Er steckte eine Reihe Tauben in eine Reihe solcher Schachteln, und die Anordnung war so getroffen, daß ein Uhrwerk in gleichen Abständen in jede Schachtel ein Futterkorn warf. Nun sind auch Tauben keine Reaktionsautomaten, denn auch sie haben Appetenzen und Programme und wollen und tun fortgesetzt irgendetwas: schreiten, gucken herum, putzen sich usf. Folglich mußte das Hereinfallen des Kornes stets mit irgendeiner Bewegung koinzidieren. Und nun ist es nurmehr eine Frage der Zeit, bis das Futterkorn mehrfach mit ein und derselben Bewegung zusammenfällt. Von diesem Augenblick an beginnt ein merkwürdiger Lernprozeß. Die jeweilige Bewegung wird mit der Futtergabe assoziiert, die Bewegung - sagen wir, ein Schritt nach links - wird nun öfter gemacht. Die Koinzidenz wird folglich häufiger. Die Taube wird in der ,Erwartung' des Zusammenhangs zwischen Futter und dieser Bewegung zunehmend bestärkt, und gewinnt zuletzt eine sozusagen lückenlose Bestätigung dafür, daß jene spezielle, nun fortgesetzt gemachte Bewegung Futter zur Folge hat, da, wenn sie sich immer nur nach links wendet, jedes Futterkorn eine Belohnung und Bestätigung bringen muß. Das Ergebnis sind lauter verrückte Tauben; eine dreht sich nur links herum im Kreise, eine andere spreizt fortgesetzt den rechten Flügel, eine schwenkt pausenlos den Kopf"

(Rupert Riedl, in: Paul Watzlawick: Die erfundene Wirklichkeit. München 1985, S. 76f.).

One of Skinner's most famous and interesting experiments examined the formation of superstition in one of his favorite experimental animals, the pigeon. Skinner placed a series of hungry pigeons in a cage attached to an automatic mechanism that delivered food to the pigeon "at regular intervals with no reference whatsoever to the bird's behaviour". Whatever chance actions each bird had been performing as food was delivered was strengthened, so the bird continued to perform the same actions:

One bird was conditioned to turn anti-clockwise about the cage, making two or three turns between reinforcements. Another repeatedly thrust its head into one of the upper corners of the cage. A third developed a 'tossing' response, as if placing its head beneath an invisible bar and lifting it repeatedly. Two birds developed a pendulum motion of the head and body, in which the head was extended forward and swung from right to left with a sharp movement followed by a somewhat slower return.

(B.F. Skinner (1947). 'Superstition' in the Pigeon. Journal of Experimental Psychology 38 - (Quelle)).

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Wenn man das Verhalten von Tauben in der Skinner-Box betrachtet, bekommt man eine ganz gute Vorstellung davon, wie die Suche nach Kausalität geradezu zwanghaft dazu führt, bei zwei fast gleichzeitig stattfindenden Ereignissen das eine für die Ursache des anderen zu halten. Dabei läßt sich idR allenfalls darüber diskutieren, ob das erste die Ursache und das zweite die Wirkung sei, oder ob es sich umgekehrt verhält. Die Idee hingegen, daß das eine mit dem anderen gar nichts zu tun hat und man es womöglich nur mit einer zufälligen Koinzidenz zu tun hat, liegt denkbar fern, mehr noch: ist unvorstellbar.

Die Suche nach Kausalität ist biologischen Systemen so tief eingepflanzt, daß sie völlig automatisch abläuft. Wenn man auf Anhieb keinen Zusammenhang finden kann, stutzt man und wird selten ruhen, bevor man nicht doch eine Ursache konstruiert hat, so absurd die auch sein mag. Wenn man einmal eine Erfahrung auf eine Ursache zurückgeführt hat, wird es sehr schwierig, diese Erklärung zu revidieren, und zwar umso mehr, je öfter sie funktioniert. Schon nach wenigen Bestätigungen passiert es dann regelmäßig, daß man eine Erwartung hegt, die selbst dann in Erfüllung geht, wenn der vermutete Zusammenhang völlig unsinnig ist.

Man kann hierfür endlos Beispiele finden. Sobald man die Erfahrung gemacht hat, daß homöopathische Mittel bei einem selbst oder einem Bekannten wirken, wird man fast unvermeidlich zu einem Verfechter der sog. Alternativmedizin. Da kann man dann noch so oft darauf hinweisen, daß alle systematischen Studien den Nachweis liefern, daß homöopathische Mittel exakt ebenso wirksam sind wie ein Placebo; man kann betonen, daß ein Placebo eben keinesfalls unwirksam ist, sondern einen meßbaren Effekt verursacht – in solch einer Debatte ist jeder „Mainstream“-Mediziner auf verlorenem Posten, so gut er seine Argumente auch vorzubringen vermag.[1]

Wenn man sich vom Konzept energetischen Wassers überzeugt hat, wirkt es; wenn man an UFOs glaubt, wird man welche sehen; wenn man zu wissen glaubt, daß guter Wein teuer ist, schmeckt teurer Wein besser; wenn man weiß, daß überproportioniert dicke Kabel digitales Audio besonders gut übertragen, klingt die Musik besonders gut; usw. usf.

Man kann versuchen, dies alles als Einbildung beiseite zu wischen, und sich darüber lustig machen. Genau so funktioniert jedoch unsere Wahrnehmung, und zwar auch die all jener, die der Meinung sind, daß diese Zusammenhänge bei ihnen nicht wirken, weil sie sie durchschauen. Gerade wissenschaftlich geschulte Beobachter sind jedoch förmlich darauf fixiert, noch im letzten Winkel der Welt eine Beobachtung auf ihre Ursache zurückzuführen. Das betreiben sie zwar deutlich systematischer und weniger von starren, dogmatischen Vorurteilen gesteuert als Menschen, die vom Glauben geprägt der Meinung sind, auf ein nachvollziehbares Experiment verzichten zu können. Ein Vorurteil werden aber auch sie nicht los: den Glauben daran, daß die Welt letztlich auf Kausalität gegründet sei.

  1. [1] Ein Blick in die Diskussionen in die Science-Blogs ist hier lohnend, sobald es dort um Homöopathie oder andere „alternative“ Behandlungsmethoden geht.

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Beispiel: Fisheye-Projektionen


Die These, daß wir keine objektiv gegebene Welt durch unsere Sinne wahrnehmen, sondern sie im Gehirn erst erzeugen, kann man mit zahlreichen Experimenten und Beobachtungen gut begründen. In der Literatur zum Konstruktivismus wird immer wieder auf den blinden Fleck auf der Netzhaut hingewiesen – jene Stelle, durch die der Sehnerv aus dem Auge tritt, und an der keine Wahrnehmung möglich ist. Hier ist nicht der blinde Fleck selber interessant, sondern die Tatsache, daß man ihn überhaupt nicht wahrnimmt. Objektiv ist dort tatsächliche eine Lücke in der optischen Information, was jedoch keine Rolle spielt, weil das Gehirn mühelos dazu in der Lage ist, eine kontinuierliche Wahrnehmung zu erzeugen.

Fenster Fisheye
Bild 1

Fenster entzerrt
Bild 2

Schaufensterpuppe Fisheye
Bild 3

Schaufensterpuppe entzerrt
Bild 4

Ein anderes Beispiel, über das ich gestern gestolpert bin, findet sich im Zusammenhang mit Fotografien, die mit extremen Weitwinkelobjektiven aufgenommen wurden. Bild 1 ist ein Blick durch ein sog. Fisheye, das über einen Blickwinkel von 180 Grad verfügt. Charakteristisch ist die überdimensionierte Darstellung des Vordergrunds – ich habe den Fenstergriff bei der Aufnahme mit der Linse fast berührt. Hinzu kommt die kugelförmige Verzerrung. Grade Linien werden zum Rand hin immer stärker kreisförmig verformt – ein Umstand, der stark befremdet. Die meisten Weitwinkelobjektive entzerren die Perspektive deshalb durch eine spezielle Konstruktion der Optik. Man kann das aber auch nachträglich mittels Software erreichen – Bild 2 ist die „entzerrte” Version desselben Fotos. Die Linien sind jetzt gerade, und diese Perspektive scheint der Realität weit besser zu entsprechen.

Bild 3 + 4 sind wiederum ein Pärchen aus Fisheye-Perspektive und deren entzerrter Version. Links im Bild sieht man, wie die Häuserfront durch die Entzerrung „richtig” wird. Rechts hingegen, im Gesicht der Schaufensterpuppe, funktioniert dieselbe Operation überhaupt nicht – die Fisheye-Perspektive des Gesichts wirkt weitaus natürlicher als das entzerrte Gegenstück.

Woran liegt das? Ich habe das Thema oberflächlich gegoogelt, aber keine weiteren Hinweise im Netz gefunden, und ich müßte mich mit der Funktionsweise des menschlichen Auge genauer beschäftigen, um hier eine Theorie zu versuchen. Meine Vermutung ist jedoch, daß das Auge – wie jede „einfache” Optik – keine Korrektur macht, wenn es die dreidimensionale Welt in ein zweidimensionales Bild „zusammenfaltet”. Linien sind in solch einer Projektion niemals gerade, sondern – je nach Brennweite der Optik – mehr oder weniger gebogen. Da das Gehirn jedoch weiß, daß bestimmte Gegenstände gerade Linien haben, rechnet es die optischen Informationen so um, daß sie mit diesem Wissen übereinstimmen. Ein Betrachter erwartet dann von einem Foto, daß als gerade „gewußte” Linien dort ebenfalls gerade sind, genau so, wie er es aus der Manipulation des unmittelbaren Anscheins der Augen durch das Gehirn gewohnt ist. Bei Gesichtern hingegen ist diese Manipulation nicht nötig, um ein korrektes – oder besser, mit einem Begriff v.Glasersfelds, valides – Abbild der Realität zu bekommen. Mehr noch: zur (für das Überleben der - beobachtenden, handelnden - Gattung notwendigen) Unterscheidung von Gesichtern dürfte es hilfreich sein, wenn das Gehirn die „unmittelbare” Wahrnehmung mit verhältnismäßig sparsamer „Nachbearbeitung” versieht.

Das ist, wie gesagt, reine Spekulation. Ich werde mal schauen, ob ich zu dem Thema weitere Informationen finde – spannend ist es in jedem Fall, und zwar nicht nur für Fotografen.

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