Gregory Bateson: Mind and Nature

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Wahrnehmung bedeutet: zu unterscheiden.

Wo man immer dasselbe sieht, sieht man gar nichts; erst dort, wo man zwei Dinge voneinander unterscheidet, nimmt man wahr - egal, ob dies ein Geräusch, ein Geruch, oder ein Bild ist. (Bateson weist darauf hin, daß selbst dann, wenn man einen bestimmten Punkt scheinbar bewegungslos anstarrt, das Auge in permanenter mikroskopischer Bewegung ist – Mikrosakkade heißt das Fachwort)

Das Ziel jeder Wahrnehmung scheint jedoch, etwas zu identifizieren, d.h., als einmalig zu setzen - was nur in einem Akt der Unterscheidung möglich ist (wo man mindestens zwei - unterschiedliche - Dinge braucht).

Mit anderen Worten: der Mechanismus der Wahrnehmung widerspricht – auf einer fundamentalen Ebene – ihrem eigenen Ziel. Wo wir etwas sehen, unterscheiden wir ein Ding von seiner Umwelt; wo wir etwas benennen (was ja das Resultat jeder Wahrnehmung ist), heben wir eben diese Unterscheidung wieder auf, und erklären den beobachteten Gegenstand als in sich selbst identisch. Ein Tisch ist ein Tisch – als wenn er nicht in einem bestimmten Raum stünde und sich in seiner Differenz zum »Raum« erst definierte.

Ich sehe einen Vogel vor einer Naturkulisse – eine Möwe etwa, die über dem Bodensee segelt, mit den von einer späten Sonne überstrahlen Alpen im Hintergrund. Meine Wahrnehmung unterscheidet hier zwischen einem kleinen und zerbrechlichen Lebewesen, und setzt es ab von einem unendlich komplexen Hintergrund aus Felsen, Wasser, und millionenalter Geschichte.

Jede Wahrnehmung – Beobachtung – sortiert (unterscheidet), weil jeder Beobachter ein Interesse am von ihm Beobachteten hat. Die Möwe ist vielleicht deshalb so interessant (und damit überhaupt erst sichtbar vor der beeindruckenden, erschlagenden Kulisse), weil sie etwas kann, was ich nicht vermag: fliegen. Die Unterscheidung in der Wahrnehmung liegt nicht im Gegenstand, sondern im Interesse des Beobachters.

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„Wahrnehmung bedeutet: zu unterscheiden.“

Das ist kein trivialer Satz – man landet hier aber unmittelbar gewissermaßen in der „Ursuppe“ der Erkenntnis, der Tautologie.

Consider:

!(A && !A) => Nicht (A und Nicht-A)

Gegen dieses Konstrukt gibt es nun gar nichts einzuwenden: wenn etwas ist, kann es unmöglich gleichzeitig nicht sein. Weil man gegen diesen Satz nichts einzuwenden hat, ist er gleichzeitig völlig überflüssig: eine Tautologie, und keine Differenz.

Consider:

!(A && B) => Nicht (A und B) (A || B) => Entweder A oder B

Dies sind zwei Herleitungen der Tautologie oben, die – neben den logischen Operatoren – zwei unterschiedliche „Dinge“ benennen: es gibt neben dem „A“ endlich auch ein „B“, und damit eine Differenz: damit hat man die Disziplin der reinen Logik verlassen, und befindet sich annähernd im wirklichen Leben.

(Ich hatte den Unterschied zwischen „passiver“ und „aktiver“ Negation schon zuvor am Wickel.)



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"Explanation – the mapping onto tautology of unfamiliar sequences of events“. ("Erklärung – das Abbilden unbekannter Abfolgen von Ereignisse auf Tautologien“. - Gregory Bateson, Mind and Nature, p.44)

Erklärungen sind immer Abbildungen: Ursache-Wirkung-Beschreibungen etwa abstrahieren von der beobachteten Wirklichkeit. Jede Erklärung ist eine Abstraktion und damit Vereinfachung der beobachteten Welt – eben ein „mapping“: sie ist nicht die Welt selbst, sondern allenfalls eine Karte von ihr.

Erklärt werden soll der Zusammenhang zwischen zwei Ereignissen, die zunächst ohne Zusammenhang hintereinander stehen. Damit ist das ein existenzieller Akt, denn jede Wahrnehmung ist[1] die Wahrnehmung einer Differenz. Wenn ich eine Wahrnehmung benennen will, bin ich darauf angewiesen, jene Differenz der Wahrnehmung zu benennen – und das geht nur, wenn ich diese Differenz als in sich identisch zu fassen bekomme. Genau dies ist die Definition einer Tautologie: zwei Dinge in eins zu setzen, die dennoch nicht verschieden sind.

  1. [1] Dies ist keine Wirkung-Ursache-Beziehung; man kann eben nicht sagen: Wahrnehmung „beruht auf“ der Wahrnehmung einer Differenz.


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Es gibt eine Geschichte, die ich früher schon verwendet habe und die ich erneut vortragen möchte: Ein Mann wollte wissen, wie es sich mit dem Geist verhält – nicht in der Natur, sondern in seinem eigenen großen Computer. Er fragte ihn (zweifellos in makellosem Fortran): „Rechnest du damit, daß du jemals denken wirst, wie ein menschliches Wesen?“ Die Maschine machte sich daran, ihre eigenen Rechengewohnheiten zu analysieren. Schließlich druckte sie ihre Antwort auf einem Stück Papier aus, wie dies solche Maschinen zu tun pflegen. Der Mann eilte hin, um die Antwort zu erfahren, und fand die sauber getippten Worte vor:

Das erinnert mich an eine Geschichte.

Gregory Bateson, Geist und Natur. Ff/M. 1987, S.22 (Hervorhebung im Original)



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Wir haben den Kern des Christentums verloren. Wir haben Shiva eingebüßt, den Tänzer des Hinduismus, dessen Tanz auf der trivialen Ebene sowohl kreativ als auch destruktiv, dessen Wesen als ganzes aber die Schönheit ist. Wir haben Abraxas verloren, den schrecklichen und schönen Gott des Tages und der Nacht, wie ihn die Gnostiker kannten. Uns ging der Totemismus verloren, der Sinn für die Parallelität zwischen der menschlichen Organisation und der von Tieren und Pflanzen. Wir haben sogar den sterbenden Gott verloren[…].

Man kann jedoch beobachten, daß es in der Welt viele verschiedene und sogar gegensätzliche Erkenntnistheorien gegeben hat und noch gibt, die sich darin gleichen, daß sie eine letzte Einheit betonen, und die auch, obwohl das weniger sicher ist, die Vorstellung hervorheben, daß diese letzte Einheit ästhetisch ist. Die Einheitlichkeit dieser Weltanschauung läßt hoffen, daß die große Autorität der quantitativen Wissenschaft vielleicht nicht so weit geht, eine allem zugrundeliegende einigende Schönheit zu leugnen.

Ich halte an der Voraussetzung fest, daß unser Verlust des Sinnes für ästhetische Einheit einfach ein erkenntnistheoretischer Fehler war. Ich glaube, daß dieser Fehler schwerwiegender sein kann als all die kleineren Ungereimtheiten jener älteren Erkenntnistheorien, die sich in der grundlegenden Einheit trafen.

(Gregory Bateson, Geist und Natur, aaO, S.28f)



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„Von Nichts kommt nichts“

Dieses Zitat aus King Lear vereinigt in einer einzigen Äußerung eine ganze Reihe von mitteralterlichen und modernen weisen Sprüchen. Dazu gehört:

a) Das Gesetz von der Erhaltung der Materie und seine Umkehrung, daß man im Laboratorium nicht mit dem Auftreten neuer Materie rechnen kann. (Lukrez sagt: „Daß aus Nichts nichts wird, selbst nicht durch Willen der Götter.“)

b) […]

c) […]

d) Das Prizip, daß keine neue Ordnung oder kein neues Muster ohne Information hergestellt werden kann. Von all diesen und anderen negativen Aussagen läßt sich sagen, daß sie eher Regeln der Erwartung als Naturgesetze sind. Sie kommen der Wahrheit so nahe, daß alle Ausnahmen von extremen Interesse sind.

[…]

Der nicht geschriebene Brief, die nicht vorgebrachte Entschuldigung, das für die Katze nicht hingestellte Futter – all das kann eine hinreichende und wirkungsvolle Mitteilung sein, weil null im Kontext bedeutungsvoll sein kann; und es ist der Empfänger der Mitteilung, der den Kontext erzeugt.

[…]

Alle Beschreibung, Erklärung oder Darstellung ist notwendigerweise in gewissem Sinn ein Abbilden von Ableitungen der zu beschreibenden Phänomene auf eine Fläche, Matrix oder ein Koordinatensystem. Im Fall einer wirklichen Karte ist die aufnehmende Matrix gewöhnlich ein flaches Blatt Papier von endlicher Größe, und Schwierigkeiten treten auf, wenn das, was abgebildet werden soll, zu groß oder beispielsweise kugelförmig ist. Andere Schwierigkeiten träten auf, wenn die aufnehmende Matrix eine Ringfläche oder eine diskontinuierliche lineare Sequenz von Punkten wäre. Jede aufnehmende Matrix, selbst eine Sprache oder ein tautologisches Netzwerk von Aussagen, hat ihre formalen Eigenschaften, die im Prinzip eine Verzerrung der Phänomene mit sich bringen, welche darauf abgebildet werden sollen. Vielleicht ist das Universum von Prokrustes entworfen worden, jener dunklen Gestalt der griechischen Mythologie, in dessen Herberge jeder Reisende unter dem Schmerz der Amputation oder der Streckung der Beine in das Bett eingepaßt werden mußte.

(Gregory Batson, Geist und Natur, Ff./M 1987, S.61ff - Hervorhebung von mir.)



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Zahlen sind das Produkt des Zählens. Quantitäten sind das Produkt des Messens. Dies bedeutet, daß Zahlen eben deshalb genau sein können, weil zwischen jeder ganzen Zahl und der nächsten eine Diskontinuität besteht. Zwischen zwei und drei liegt ein Sprung. Im Fall der Quantität gibt es keinen solchen Sprung; und weil in der Welt der Quantität Sprünge fehlen, kann keine Quantität exakt sein. Man kann genau drei Tomaten haben. Aber man kann nie genau drei Liter Wasser haben. Quantität ist immer approximativ.

[…]

Nicht alle Zahlen sind das Produkt des Zählens. In der Tat sind es die kleineren und vertrauteren Zahlen, die oft nicht gezählt, sondern auf den ersten Blick als Muster erkannt werden.

[…]

Das kulturelle Phänomen der Erklärung: das Abbilden unbekannter Folgen von Ereignissen auf Tautologien.

(Gregory Batson, aaO, S.65)



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There seems to be something like Gresham's law of cultural evolution according to which the oversimplified ideas will always displace the sophisticated and the vulgar and hateful will always displace the beautiful. And yet the beautiful persists.

(Gregory Bateson. Mind and Nature. Hampston Press, 2002, p.5)

In der deutschen Übersetzung liest sich die oben zitierte Passage wie folgt:

Es scheint etwas wie ein Greshamsches Gesetz der kulturellen Evolution zu geben, nach dem die übervereinfachten Ideen immer die verfeinerten ersetzen werden und das Vulgäre und Hassenswerte immer an die Stelle des Schönen treten wird. Und doch erhält sich das Schöne am Leben.

Eine Abhandlung, die verspricht, sich dem Phänomen der „Schönheit” zu nähern, kommt nicht umhin, das Phänomen in sich selber abzubilden; d.h.: sie muß, um sich nicht inhärent zu widersprechen, selber schön sein. Das heißt hier, daß die Prosa nicht einfach nur technisch richtig sein kann, sondern in ihrer Gestalt ästhetisch sein muß, wenn die Argumentation nicht im ersten Satz in sich selbst zusammenfallen soll.

Sprich: man muß das englischsprachige Orignal lesen, wenn man sich ein Urteil erlauben will. - Here I go.



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Daughter: So what? You tell us about a few strong presuppositions and great stochastic systems. And from that we should go on to imagine the world is? But–

Father: Oh, no. I also told you something about the limitations of imagining. So you should know that you cannot imagine the world as it is[…]. And I told you something about the self-validating power of ideas: that the world becomes – comes to be – how it is imagined.

(Gregory Bateson, aaO S.193)



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A man is shaving with his razor in his right hand. He looks into his mirror and in the mirror sees his image shaving with his left hand. He says: „Oh. There's been a reversal of right and left. Why is there no reversal of top and bottom?”

(Gregory Bateson. Mind and Nature, p.77)

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