22.4.2011

Über die Konstruktion von Identität (4)

(Themenzusammenhang)

Die Zuschreibung als Mann oder Frau ist natürlich nicht das einzige Kriterium bei der Bestimmung einer Identität, wenn auch die sicherlich wichtigste und folgenreichste. Neben biologischen Bestimmungen über den Körper (dick / dünn, groß / klein, schön / häßlich, klug / dumm, alt / jung, gesund / krank bzw. gesund / behindert) gibt es solche gesellschaftlicher Natur (arm / reich, einflußreich / abhängig, um das nur sehr knapp anzudeuten). Wie bei der Unterscheidung zwischen „Sex“ und „Gender“ macht es m.E. auch hier keinen Sinn, einen Unterschied zwischen Biologie und Gesellschaft zu machen; noch mehr als bei der Differenz der „natürlichen“ und „gesellschaftlich verursachten“ Umstände bei der Bestimmung des Geschlechts sind hier die beiden Ebenen mehr voneinander abhängig, als daß sie prinzipielle Unterschiede aufzeigen. Wer arm ist, wird aufgrund eingeschränkten Zugangs zu gesunder Ernährung und medizinischer Versorgung eher krank, etc.pp.

Interessanter finde ich die Betrachtung, wieweit die unterschiedlichen Kriterien bei der Bestimmung von Identität eindeutig zuweisen, oder eher ausgewaschene Grenzen ziehen. Das Kriterium weiblich / männlich zeigt hier die größte Neigung, etwas wie zwei eindeutige Pole zu beschreiben, obwohl es eine große Zahl von Identitäten gibt, die nicht recht in das Raster passen – dabei stehen die keinesfalls eindeutig zuordbaren sexuellen Präferenzen (hetero-, bi-, homosexuell) nur am Anfang von allen möglichen Übergängen. Andere Kriterien lassen sich eher als Abweichungen von einem – subjektiven und/oder gesellschaftlich gefassten, schon in sich eher schwammigen – „Ideal“ beschreiben. So gibt es ein „normales“ Körpergewicht, von dem „Dicke“ und „Dünne“ abweichen; eine „normale“ Größe, unterhalb derer man „klein“ und oberhalb der man „groß“ ist; etc. Interessant ist noch der Unterschied in den Abweichungen vom „gesunden“ Normalzustand: ist das nur temporär, ist man „krank“, ist es permanent, spricht man von „behindert“; wobei zwischen diesen beiden Ebenen wiederum fließende Grenzen existieren (irgendwann kann eine Krankheit zur Behinderung werden).

Dabei gibt es in der Akzeptanz von Abweichungen unterschiedliche Toleranzen. „Alte“ oder „junge“ Menschen stellen fast schon keine Abweichungen von einer Norm mehr dar, wohl weil jeder Mensch weiß, daß er alle Altersstufen durchlaufen wird (wobei schon mehr als erstaunlich ist, wie die Postmoderne damit beschäftigt ist, ihre Alten auszugrenzen und an den Rand zu stellen). Andere Grenzüberschreitungen verzeiht man leichter (wie z.B. es heute kein Problem ist, wenn junge Frauen ihre Magersucht offen zur Schau stellen), andere schwerer (z.B. - wieder besonders bei Frauen – die Abweichung vom Normalgewicht nach oben, die mit z.T. grotesken Wertungen versehen wird). Besonders massiv trifft es jene, die gegen die grundlegende Differenz verstoßen – wo sich Männer wie Frauen kleiden, oder das Geschlecht eines Körpers durch Operationen und den Einsatz von Medikamenten verändert wird.

Die unterschiedlichen Ideale sind bekanntermaßen historisch höchst unterschiedlich definiert. Dabei ist dies auch für jene Kriterien der Fall, die die geschlechtliche Identität bestimmen. Ein oft gehörtes Argument für die anscheinend naturgegeben Trennung von Frauen und Männern lautet ja, daß die einen schließlich schwanger werden könnten, die anderen nicht – das sei ein Unterschied von so ungeheurer Bedeutung, daß man ihn nicht beiseite schieben könne. Die Bedeutung ungeleugnet, ist sie jedoch keinesfalls fraglos und zu allen Zeiten gleich „groß” und hat die gleichen Folgen. Wenn man etwa einen adligen Grundbesitzer im Mittelalter nach der Bedeutung von Gebärfähigkeit fragt, wird er drei Fälle unterscheiden: die seiner Frau bis zur Geburt des männlichen Erbfolgers; bei den Kindern danach (die immer noch zählt, aber nur noch gewissermaßen zur Ersatzbeschaffung, falls dem Erbfolger etwas zustößt); und die der Mägde auf seinen Höfen (die ihn allenfalls in ihrer Rolle bei der Beschaffung von Arbeitskräfte interessiert). Dem entsprechen drei unterschiedliche Frauenbilder und -rollen. - Nochmal dramatisch anders sieht es aus, wenn man über frühe menschliche Gesellschaften spekuliert, die den Zusammenhang zwischen Geschlechtsverkehr und Schwangerschaft noch nicht kennen.[1] Falls in solchen Gemeinschaften Sprache schon existierte, wird man jede Geburt als unerklärliches Wunder dem Wirken mächtiger Götter zugeschrieben haben – eine völlig andere Zuschreibung als jene, die wir heute als naturgegeben annehmen, und die Rolle der Frauen in solchen archaischen Gesellschaften massiv beeinflußt haben muß.

  1. [1] Vergl. Christoph Türcke: Philosophie des Traums, München 2008.

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