Themensammlung: Konstruktivismus und Gesellschaftstheorie (2)

(Themenzusammenhang)

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Es gibt ebenso viele Beschreibungen eines Sachverhalts, wie es Beobachter gibt. Eine Beschreibung kann in sich konsistent, logisch in ihrem Verhältnis zum Gegenstand sein, etc. - sie wird niemals „wahr“ in Bezug auf den Gegenstand sein, sondern allenfalls „richtig“ in Bezug auf das Interesse des Beobachters. - Die Beschreibung der wirtschaftlichen Verhältnisse aus den Augen eines Gewerkschafters unterscheidet sich erheblich von jener aus unternehmerischer Sicht. Trotzdem ist nicht die eine Sicht wahr, und die andere unwahr. Vielmehr – sofern es sich um jeweils ehrliche Analysen handelt, und nicht etwa um Statements im Sinne von politischer Lobbyarbeit für die Durchsetzung der eigenen Interessen – sind beide Positionen gleichermaßen richtig. - In der Praxis findet man nicht selten einander widersprechende Beschreibungen ein und desselben Sachverhalts durch verschiedene Beobachter, die gleichermaßen logisch, in sich konsistent etc. sind. Um Stellung zu beziehen, erklärt man sich mit einem der Beobachter solidarisch. Man teilt dessen Interessen.

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Es gibt Beschreibungen desselben Sachverstands, die sich im historischen Bezug unterscheiden. Dabei ist die historisch jüngere Position nicht „wahr“, und die ältere nun „unwahr“ und widerlegt. Sie sind beide immer nur „richtig“, und zwar in Bezug auf ihr historisches Koordinatensystem. - Die Beschreibung der Himmelsmechanik durch Keppler ist in sich konsistent, logisch etc.; sie ist jedoch nicht „wahr“ im Sinne von „wahr für alle Ewigkeit“; sie ist „richtig“ in Bezug auf Keppler und den Stand der Möglichkeiten bei der Beobachtung des Himmels, des Standes der Theorie etc., zu seiner Zeit. Dasselbe trifft zu für Einsteins Theorie – sie ist ein gutes Beispiel, wie eine wissenschaftliche Theorie ihren Vorgänger nicht einfach ersetzt, sondern entscheidend bereichert.