5.4.2011

Über die Konstruktion von Identität (2)

(Zettelkasten)

Wenn ich sage, daß Wirklichkeit konstruiert ist, behaupte ich keinesfalls, daß sie nicht existiert. Es gibt Gegenstände, und sie existieren nicht nur in unseren Köpfen – und ja: es gibt sehr wohl biologische Unterschiede zwischen Männern und Frauen. Nur gibt es keine „objektive“ Wirklichkeit, die wir sehen können – und wenn wir dies könnten, gäbe es in ihr keine Begriffe, damit auch keine Tische oder Geschlechter. Dies sind Konstrukte, die Menschen machen – die sie machen müssen, wenn sie über Wirklichkeit etwas sagen wollen.

Es gibt es keine Wirklichkeit jenseits von Sprache.[1]

Wenn man einen Gegenstand als „Tisch“ bezeichnet, ist dies ein Akt des Sprechens, der diesen Gegenstand von Anderen unterscheidet. Dabei ist nur für den sog. „gesunden Menschenverstand“ klar, was ein Tisch ist. Tatsächlich ist dessen Grenze zu anderen Gegenständen jedoch diffus und jenseits einer eindeutigen Definition.

Manchmal reicht es nicht, wenn man nur das Wort Tisch verwendet – dann muß man von einem Eß- oder Schreibtisch reden, weil der Gegenstand, um den es geht, nicht nur eine physische Gestalt hat, sondern auch in einer bestimmten Weise gebraucht wird.

Aber auch der Begriff für den Gegenstand „an und für sich” läßt sich nicht eindeutig definieren: einen kleinen, niedrigen Tisch muß man vielleicht als „Beistelltisch“ bezeichnen, um klar zu machen, daß dies keine Sitzgelegenheit (ein Hocker) ist; und ein Tisch mit einer Schublade unter der Tischplatte ist nur graduell getrennt von einer Kommode (die dann mehr als nur eine Schublade hat).

Trotz dieser Schwierigkeiten, einen sehr einfachen Gegenstand in der Wirklichkeit sprachlich „in den Griff zu bekommen“ – und obwohl man an dieser Stelle letztlich scheitert –, bleibt gar nichts anderes übrig, als zu sprechen. Man bringt etwas auf „den“ Begriff – und beim „Tisch“ hat die historische Entwicklung der Sprache ergeben, daß dies (in meiner Gegenwart) ein Begriff für Gegenstände ist, die drei oder vier Beine haben; aus Holz, Glas oder Stein hergestellt werden; so groß sind wie ein Konferenztisch oder so winzig wie in einer Puppenstube.

Der Witz liegt darin, daß es in der Wirklichkeit keine Tische gibt – es gibt keine Gegenstände, die „Tisch“ „sind“, es gibt nur das sprachliche Konstrukt „Tisch“. Die Natur hat keine „Namen“ für Gegenstände; und Sprache bezeichnet nicht bloß etwas, was „wirklich“ da ist. In Sprache konstruieren wir die Gegenstände in dem Moment, in dem sie („uns erscheinen”, hätte ich fast gesagt:) werden.

  1. [1] Mir ist klar, daß ich hier die Dinge verkürze.
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