3.9.2009

Notiz - „Doktor Faustus”

Ich habe gerade damit begonnen, mich durch Thomas Manns „Doktor Faustus” zu arbeiten - in der Hoffnung, dort Material für meinen Handwerker und Genies-Baukasten zu finden. Der Roman ist 1943 im amerikanischen Exil entstanden, und sein Thema setzt sich genau mit jener Doppelbödigkeit des Geniekults auseinander, an der er zu jenem Zeitpunkt zerbrechen will, und mit der ich mich gerade beschäftige. Thomas Manns Ich-Erzähler erklärt, der Zeit der Romantik noch nicht entronnen zu sein und ihr Pathos nicht missen zu wollen. Gleichzeitig wird schon zu Beginn klar, daß die Hauptfigur - der Komponist Adrian Leverkühn, um den die fiktive Biographie sich dreht - sie haßt und verspottet: er lehnt das Wort von der „Inspiration” glattweg ab, und will sich nicht einmal mehr „Künstler” nennen lassen. - Ich kenne vom Roman nicht einmal eine Synopsis, und lasse mich von dem überraschen, was da kommt.

Dabei hatte ich all die Jahre bisher - mehr oder weniger erfolgreich - einen Bogen um das Werk Thomas Manns geschlagen. Seine Sprache, die zumeist in gedrechselten, verschlungenen und überlangen Sätzen daherkommt, kam mir bisher verdächtig gemacht und bemüht vor, und das Tempo, in dem seine Erzählungen sich entwickeln, erschien mir außerordentlich langsam, ja stockend und zäh.

Nach den ersten zwanzig Seiten im „Doktor Faustus” mußte ich mich zwingen, am Ball zu bleiben. Nach weiteren zehn Seiten wollte ich das Buch in die Ecke pfeffern. Nochmal zehn Seiten später fiel mir dann auf, das ich jeden Satz nicht fünfmal, sondern nur noch zweimal lesen mußte. Mittlerweile habe ich mich soweit eingelesen, daß ich nahezu jeden Satz auf Anhieb entschlüsseln kann und ebenso flüssig vorankomme wie mit jedem anderen Roman auch. Und plötzlich macht das richtig Spaß - zumal Thomas Mann hier von Musik in einer Art Weise spricht, wie ich das sonst nicht kenne.

Da gibt es ein Kapitel, in dem Leverkühns Lehrer Beethovens Klaviersonate op.111 - die 32. und letzte - erklärt und analysiert. Thomas Mann gibt hier eine brillante Deutung des Werks, die sich über mehrere Seiten erstreckt, und mich eben dazu gebracht hat, die CD heraus zu kramen und das Stück anzuhören. Im Klavierwerk Beethovens kenne ich mich nur oberflächlich aus, und ich bin gar nicht sicher, ob ich op.111 zuvor schon einmal gehört habe. Das habe ich eben nachgeholt - wobei sich herausstellte, daß ich nicht nur eine CD (mit einer Interpretation Alfred Brendels), sondern auch die Noten besitze. Tatsächlich ist das ein wirklich gewaltiges Werk, und der letzte Satz, der aus Variationen über eine schlichte, harmonisch völlig konventionelle Arie besteht, gehört womöglich zum Besten, was Beethoven geschrieben hat.

Thomas Mann schreibt über das Arietto u.a.:

Das Charakteristikum des Satzes ist ja das weite Auseinander von Baß und Diskant, von rechter und linker Hand, und ein Augenblick kommt, eine extremste Situation, wo das arme Motiv einsam und verlassen über einem schwindelnd klaffenden Abgrund zu schweben scheint - ein Vorgang bleicher Erhabenheit, dem alsbald ein ängstliches Sich Klein Machen, ein banges Erschrecken auf dem Fuße folgt, darüber gleichsam, daß so etwas geschehen konnte. Aber noch viel geschieht, bevor es zu Ende geht. Wenn es aber zu Ende geht und indem es zu Ende geht, begibt sich etwas nach so viel Ingrimm, Persistenz, Versessenheit und Verstiegenheit in seiner Milde und Güte völlig Unerwartetes und Ergreifendes. Mit dem vielerfahrenen Motiv, das Abschied nimmt und dabei selbst ganz und gar Abschied, zu einem Ruf und Winken des Abschieds wird, mit diesem d-g-g geht eine leichte Veränderung vor. […] Es ist wie ein schmerzlich liebevolles Streichen über das Haar, über die Wange, ein stiller, tiefer Blick ins Auge zum letzten Mal. Es segnet das Objekt, die furchtbar umgetriebene Formung mit überwältigender Vermenschlichung, legt sie dem Hörer zum Abschied, zum ewigen Abschied sanft ans Herz, daß ihm die Augen übergehen.

Genau so ist es.

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