29.7.2009

Körperwissen (10)

(Themenanfang)

In seinem Roman „Lea” beschreibt Pascal Mercier den Werdegang eines elfjährigen Mädchens zur gefeierten Geigerin. Ganz am Anfang, als Lea einer Straßenmusikerin beim Geigespielen zugehört hat und sich auf Anhieb in das Instrument verliebt, heißt es:

Lea nämlich hatte […] über ganz praktische Dinge nachgedacht: wie [die Geigerin] wissen konnte, wo sie Halt machen mußte, wenn sie mit der Hand den Geigenhals hinauf- und hinunterrutschte. (S.40)

(Pascal Mercier. Lea. S.40)

Nach einigen Jahren ausdauernden Übens hat sich dieses Nachdenken aufgelöst:

Daß jemand nach so kurzer Zeit in allen Lagen zu Hause war, hatte [Leas Lehrerin] in den vielen Jahren des Unterrichtens noch nie erlebt, und Lea konnte Tränen lachen, wenn ich sie daran erinnerte, wie sehr es sie beschäftigt hatte, daß [die Geigerin] so genau wußte, wo sie beim Lagenwechsel mit dem Gleiten der Hand Halt machen mußte.

(AaO, S.69)

Wie kommt es, daß eine einst ernsthaft gestellte Frage im Rückblick nur noch ein Lachen auslöst? Sicherlich liegt das nicht daran, daß Lea sie plötzlich beantworten könnte. Was ihr anfangs erklärungsbedürftig erschien, wurde selbstverständlich, und sie hat keine Ahnung mehr, warum sie die Frage einst gestellt hatte - sie hat völlig vergessen, was ihr damals Anlaß zum Staunen gab.

Wie gesagt: die Frage könnte sie noch immer nicht beantworten: sie weiß nicht, wie sie es hinbekommt, die Hand immer an die exakt richtige Stelle zu bewegen, aber sie kann das. Wenn man etwas kann, wundert man sich gelegentlich, warum ein Anderer dies eben nicht kann und womöglich nachfragt, wie dieses Können denn möglich sei. Eine nachträgliche Analyse fällt dann aber außerordentlich schwer. Wenn man sie dennoch versucht, geht es einem womöglich wie dem Tausendfüßler, der, danach gefragt, wie er denn seine vielen Beine koordiniere, ins Sinnieren gerät und darüber dann auch gleich ins Stolpern.

Tatsächlich ist das, was feinmotorisch beim Geiger beim Lagenwechsel abläuft, eine außerordentlich diffizile Angelegenheit. Wenn er nur Bruchteile eines Millimeters daneben greift, kann man das augenblicklich deutlich hören. Ein erfahrener Spieler greift aber überhaupt nicht mehr daneben (wenn, dann sind das meist deutlich gröbere Fehler, die nicht auf ein Versagen der Feinmotorik, sondern des Gedächtnisses für das Stück hindeuten). Dabei kommt es zu solcher geradezu unfehlbaren Sicherheit erst nach vielen Jahren ausgedehnten Übens. Man kontrolliert dabei aber die Feinmotorik nicht dadurch, daß man sie bewußt zu steuern lernt. Der „Sollwert” für einen präzisen Lagenwechsel ergibt sich nicht aus der Kraft, mit der sich die Hand bewegt, sondern vielmehr am Resultat, dem exakt intonierten Ton.

Man trainiert die Muskeln, steuert sie aber über das Ohr.

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