18.6.2009

Der Tisch, der tanzt - zur Grundlage der marx'schen Ideologiekritik

Ich habe vorhin ganz oben aus meinem Bücherregal einen Band hervor gezogen, eine dicke Staubschicht aus 25 Jahren weggepustet, (ok, beim letzten Umzug hatte ich sauber gemacht, also nur 4 Jahre Staub), und noch einmal ein Kapitel nachgeschlagen. Es trägt die Überschrift „Der Fetischcharakter der Ware”, und enthält einige Sätze, die m.E. nach wie vor eine ganz zentrale Rolle spielen, wenn man das kapitalistische Gesellschaftssystem verstehen will.

Eine Ware scheint auf den ersten Blick ein selbstverständliches, triviales Ding. […] Soweit sie Gebrauchswert, ist nichts Mysteriöses an ihr[…]. Es ist sinnenklar, daß der Mensch durch seine Tätigkeit die Formen der Naturstoffe in einer ihm nützlichen Weise verändert. Die Form des Holzes z.B. wird verändert, wenn man aus ihm einen Tisch macht. Nichtsdestoweniger bleibt der Tisch Holz, ein ordinäres sinnliches Ding. Aber sobald er als Ware auftritt, verwandelt er sich in ein sinnlich übersinnliches Ding. Er steht nicht nur mit seinen Füßen auf dem Boden, sondern er stellt sich allen andren Waren gegenüber auf den Kopf und entwickelt aus seinem Holzkopf Grillen, viel wunderlicher, als wenn er aus freien Stücken zu tanzen begänne.

(Karl Marx. Kapital 1. Berlin 1962, S. 85 - auch online verfügbar)

Man stelle sich vor: ein Tisch, der sich plötzlich in ein mystisch belebtes Objekt verwandelt, das durch die Gegend tanzt und mit großer Wahrscheinlichkeit die Leute erschreckt. Da aber niemand vor einem hölzernen Tisch erschreckt, glauben die Leute, daß er nichts Mystisches an sich habe, sondern einfach ein Gegenstand sei, auf dem man eine Tasse Kaffee abstellt - und damit, sagt Marx, liegen sie völlig falsch. [1]

Waren haben einen Gebrauchs- und einen Tauschwert. Gebrauchswert ist einfach: man kann mit einem Motorrad durch die Gegend fahren, oder einen Computer benutzen, um ein Blog zu führen. Der Tauschwert ist eine andere Seite derselben Ware, die man aber erst zu sehen bekommt, wenn man sie auf dem Markt verkauft oder kauft: ein Motorrad und ein Computer haben einen Tauschwert, mit dem man beide Gegenstände quantitativ vergleichen kann - sie kosten so oder so viel Geld.

Was ist das nun, was den Gebrauchswert einer Ware mit ihrem Tauschwert verbindet, wo kommt diese Verbindung her? - das ist ja gewiß nicht nur eine beliebige Verabredung zwischen den Marktteilnehmern? Marx sagt, diese Verbindung sei die Arbeit, die benötigt wird, um die Waren zu produzieren. Wert = Arbeit, auf dieser Formel fußt die gesamte marx'sche Theorie - wenn man sie aushebelt, fällt das gesamte Gebäude wie ein Kartenhaus. Sie wird in den ersten Kapiteln des „Kapital” sorgsam hergeleitet (was nicht gerade einfach zu lesen ist, sich mit einiger Anstrengung aber nachvollziehen läßt), und ich habe bis heute keinen Einwand gehört, der diese Herleitung entkräftet.

Gesellschaftliche Tätigkeit besteht also darin, durch Arbeit Waren und damit Wert zu erzeugen. Aber - und das ist der Knackpunkt - sichtbar wird der Wert erst in jenem Moment, in dem die Waren auf dem Markt getauscht werden, und nicht schon im Prozeß der Arbeit. Gesellschaftliche Verhältnisse erscheinen damit als Beziehungen zwischen Sachen.

Gebrauchsgegenstände werden überhaupt nur Waren, weil sie Produkte voneinander unabhängig betriebner Privatarbeiten sind. Der Komplex dieser Privatarbeiten bildet die gesellschaftliche Gesamtarbeit. Da die Produzenten erst in gesellschaftlichen Kontakt treten durch den Austausch ihrer Arbeitsprodukte, erscheinen auch die spezifisch gesellschaftlichen Charaktere ihrer Privatarbeiten erst innerhalb dieses Austausches. […] [Den Produzenten] erscheinen daher die gesellschaftlichen Beziehungen ihrer Privatarbeiten als das, was sie sind, d.h. nicht als unmittelbar gesellschaftliche Verhältnisse der Personen in ihren Arbeiten selbst, sondern vielmehr als sachliche Verhältnisse der Personen und gesellschaftliche Verhältnisse der Sachen.

(AaO, S. 87)

Motorräder werden in einer Fabrik zusammengeschraubt, in der Monteure den öffentlichen Teil ihres Lebens verbringen, indem sie miteinander arbeiten. Verkauft werden die Maschinen an einem anderen Ort, beim Händler, und entfalten dort erst ihren Wert. In dem Moment, wo sie zum Tauschgegenstand werden, werden sie für die Gesellschaft überhaupt erst sichtbar. Der Wert, der in der Fabrik durch Arbeit erschaffen wurde, realisiert sich erst im Markt. Dadurch scheinen es Sachen zu sein, die Wert haben - die Arbeit scheint in ihnen verschwunden und durch Wert ersetzt. Die Waren werden zum Fetisch, weil sie sich zum eigentlichen Protagonisten der gesellschaftlichen Verhältnisse aufschwingen.

  1. [1] Das Marx-Zitat beschreibt übrigens sehr präzise die tatsächlichen materiellen(!) Verhältnisse - anders als mein Versuch, es zu paraphrasieren.

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