18.5.2009

Theorie und Abstraktion (5)

(Themenanfang)

Wenn man von der Annahme ausgeht, daß eine Theorie die Abstraktion einer komplexen Wirklichkeit ist, führt dies zu zwei weiteren Fragen. Zunächst ist das jene nach den Bedingungen, unter denen jede Beobachtung von Wirklichkeit statt findet. Zweitens wäre zu klären, wie die Reduktion von Komplexität vonstatten geht - sprich: wer die Bedeutung von Beobachtungen und Annahmen über diese Wirklichkeit wiegt, und auf welchem Wege solch eine Gewichtung zustande kommt.

Das klingt zunächst arg abstrakt - ich nehme zwei verschiedene Anläufe, um zu erklären, worauf ich hinaus will.

Ich habe bereits beschrieben, welchen Begriff von Theorie ich verwende: eine Theorie führt nicht zu zeitlosen Gesetzen, sondern erklärt solche Gesetze, wobei sie nur zu einem bestimmten geschichtlichen Moment wahr ist. Sie beruht auf beobachteten Fakten, und sie ist jederzeit falsifizierbar. Daraus ergeben sich zwei Fragen, die nahezu deckungsgleich sind mit denen, die ich im ersten Absatz stelle: erstens, wie kommt man dazu, die Faktizität etwa einer Beobachtung festzustellen und zu begründen? und zweitens, wer (welches Individuum oder welche Instanz) überprüft die Konsistenz einer Theorie und falsifiziert sie, oder tut dies nicht?[1]

Hinter der ersten Frage steckt ein erkenntnistheoretisches Problem: wieweit ist sinnliche Wahrnehmung überhaupt in der Lage, etwas wie „Wirklichkeit” zu erfassen? Gibt es so etwas wie Fakten jenseits der Sinneserfahrung, oder konstituiert sich „Wirklichkeit” überhaupt erst durch Sinnestätigkeit, wie Kant dies postuliert?

Die zweite Frage zielt auf den den Betrieb, innerhalb dessen Wissenschaft entsteht. Die „Produktion wissenschaftlicher Wahrheit” findet ja nicht im luftleeren Raum statt. Es gibt einen konkreten gesellschaftlichen Rahmen, in dem Forscher ihre Arbeit tun - und dort ergeben sich gelegentlich gänzlich außerwissenschaftliche Zwänge, in denen Forscher z.B. voreilige und vereinfachende (Kurz)Schlüsse ziehen, weil sie unter dem Einfluß bestimmter (Eigen)Interessen die Wirklichkeit nur selektiv wahrnehmen oder womöglich sogar Labordaten bewußt fälschen. Nicht nur das: auch die Schwerpunkte, auf die sich ein bestimmter Bereich wissenschaftlicher Forschung konzentriert, werden vom gesellschaftlichen System mehr oder weniger stark beeinflußt oder sogar erzwungen.

Der zweite Anlauf, um den ersten Absatz zu erläutern, führt wieder zur Entwicklung von Software. Wenn man ein (nichttriviales) Programm schreiben will, muß man als erstes die Problemdomain analysieren. Das kann man idR nicht ohne fremde Hilfe, weil z.B. ein Softwarearchitekt es vielleicht versteht, bestimmte Abläufe in eine Klassenhierarchie oder ein UML-Diagramm zu übersetzen, diese Abläufe aber erst einmal erklärt bekommen muß. Ein Spezialist für jenes Problemfeld, für das eine Software entwickelt wird, muß sich zunächst verständlich machen, bevor man seine Anforderungen versteht, die dann als Grundlage für das konkrete Design dieser Software dienen können.

Der zweite Punkt betrifft wiederum den sozialen Zusammenhang, in dem eine Abstraktion (eine wissenschaftliche Theorie, oder - hier - eine Software) entstehen soll. Das Bild vom Nerd, der einsam vor seinem Computer sitzt und von der Welt draußen nichts mitbekommt, ist ja spätestens dann völlig schief, wenn sein Rechner mit dem Internet verbunden ist. Aber schon ein Einzelgänger, der seine Tools und Scripte selber schreibt, hat es mit komplexen gesellschaftlichen Verhältnissen zu tun, in denen er gezwungen ist, ständig zu kommunizieren: es ist völlig unmöglich, eine Software zu erstellen, ohne ständig in Dokumentationen zu wühlen.[2] Spätestens, wenn eine Software ein gewisses Level an Komplexität überschreitet, wird sie endgültig zu einem Projekt, das sich nur noch im Team bewältigen läßt.

  1. [1] Die Idee, das man eine Theorie nur falsifizieren, nie jedoch verifizieren kann, führt dazu, daß es gelegentlich schwierig ist, dafür einen adäquaten sprachlichen Ausdruck zu finden. Wer verifiziert eine Aussage? läßt sich leicht formulieren. Wer falsifiziert eine Aussage? wäre hingegen sprachlicher Unsinn, weil eine Theorie ja (zunächst) wahr wird, weil man dies zu einem gegebenen Zeitpunkt eben nicht vermag.
  2. [2] Das ist übrigens wohl der entscheidende Grund, warum ich vom Luhmann nicht loskomme: Kommunikation, in Luhmanns Definition, kommt nicht zustande, weil jemand redet, sondern weil ein anderer zuhört - Margot Berghaus hat mir das kürzlich genauer erklärt.
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