16.4.2009

Musik im Zusammenspiel

Die ersten Tonbandgeräte, mit denen man Vierspuraufnahmen machen konnte, erschienen erst Mitte der Sechziger, und erlaubten es u.a. den Beatles, über den zuvor mit der Band eingespielten Song z.B. Streicher-Arrangements oder Geräuschkollagen zu montieren. Erst mit dem Erscheinen von Achtspur-Geräten wurde es schließlich möglich, einen Song Schicht für Schicht nacheinander aufzunehmen, beginnend mit dem Schlagzeug, und dem Gesang zuletzt. Bis zu diesem Zeitpunkt mußte eine Band in der Lage sein, das komplette Stück im Studio live einzuspielen – bei einem Fehler mußte die Aufnahme wiederholt werden, nachträgliche Reparaturarbeiten waren nicht möglich. Heute entstehen – zumindest im Bereich des Pop, zunehmend aber selbst in der ehrwürdigen Klassik – die Aufnahmen aus teilweise winzigen Schnipseln, die getrennt aufgenommen und erst später im Computer zusammengebaut werden – nicht ohne vorher die ursprünglichen Aufnahmen nachträglich zu bearbeiten, indem z.B. ungenauer Gesang glatt gezogen oder das unpräzise Timing einer Begleitung berichtigt wird.

Man kann mit dieser Bastelei eine vorher völlig ungekannte Präzision erreichen, eine Opernarie etwa, in der der letzte hohe Spitzenton des Tenors so frisch klingt, als wäre er nicht erst nach mehreren kraftraubenden Minuten gesungen (einfach deshalb, weil man den ganz zu Beginn der Session aufgenommen hat). Dabei geht hierbei jedoch eine wichtige Dimension verloren: das lebendige Zusammenspiel zwischen den Musikern. Ich spreche hier zunächst nur von solchen Effekten, die zum Tragen kommen, wenn ein völlig auskomponiertes Stück vorliegt – all jene Dinge, die im Fall von improvisierter Musik noch verschärfend hinzu kommen, spare ich zunächst aus.

Wenn ein Ensemble „live“ spielt, interagieren die beteiligten Musiker ständig, und zwar (1) in rhythmischer Hinsicht bei der agogischen Gestaltung, (2) beim Anpassen der Lautstärke des eigenen Spiels, (3) bei der Phrasierung - in der Betonung einzelner Noten und deren Gruppierung zu zusammenhängenden Phrasen -, und (4) beim Anpassen der Klangfarbe (z.B. Intensität des Vibrato) - [(5) - habe ich etwas vergessen?]. Diese Reaktionen erfolgen umso präziser, (1) je besser die Mitglieder des Ensembles einander kennen (wenn man die Aktion des Nebenmanns nicht abschätzen kann, überzieht man leicht die eigene Reaktion, und vice versa), und (2) je besser das musikalische Material bekannt ist (wenn ein Stück „vom Blatt“ gespielt wird, konzentriert sich jeder zunächst auf die Noten, und weniger auf den Gesamtklang). Schließlich (3) spielt die Größe der Gruppe eine Rolle: je kleiner sie ist, desto einfacher funktioniert die gegenseitige Anpassung. Aber auch in einem spätromantischen Sinfonieorchester spielt die unmittelbare Abstimmung des eigenen Spiels durch das Hören auf die Anderen eine weit wichtigere Rolle als alle Gesten des Dirigenten.

Man hat es hier mit Rückkopplungseffekten zu tun, die unterhalb der Bewußtseinsschwelle statt finden, und deshalb in einer Situation im Studio nicht nachzustellen sind, in der jeder einzeln vor das Mikrophon tritt. Das Spiel des einen Musikers verändert jenes seines Nebenmanns, ohne daß dieser hinterher sagen könnte, was genau sich verändert hat, und in welchem Maß. Er hat z.B. eine Note in einer bestimmten Lautstärke gespielt, wobei er nicht angeben kann, welchen Anteil der eigene Wille daran gehabt hat, diese und keine andere Lautstärke zu wählen, und welchen Anteil die Rückkopplung durch das Spiel des Kollegen. Im gleichen Moment beeinflußt sein Spiel wiederum jenes aller anderen – es entstehen infinit-rekursive Rückkopplungen (ich versuche mal, für das Phänomen einen - vorläufigen - Begriff zu finden; eine Definition reiche ich später nach).

Deutlich wahrnehmbar werden diese Effekte, wenn es um das Timing geht. In einer Recording-Session, bei der jede Stimme einzeln aufgenommen wird, muß mit einem Click-Track gearbeitet (nach einem Metronom gespielt) werden. Dadurch richtet jeder Musiker das eigene Timing nicht mehr an jenem der anderen aus, sondern nach dem Metronom. Die Folge ist eine eigenartige Maschinenhaftigkeit der gesamten Performance, die selbst dann offenkundig hörbar ist, wenn ausschließlich von Menschen gespielte Instrumente und nicht etwa Drumcomputer u.ä. zum Einsatz kommen und die Aufnahmen ohne nachträgliches Quantisieren im Original belassen wurden. Das liegt interessanterweise nicht am Metronom, sondern an der Suspendierung des „aufeinander-Hörens“.

Ich habe in den 80ern lange Zeit mit Drumcomputern und Sequenzern im Zusammenklang mit einer „live“-spielenden Band experimentiert – dabei hat man ebenfalls mit dem Problem zu kämpfen, daß die Band sich zu einem Click-Track synchronisieren muß und ganz schnell ihr originäres Feeling, ihren „Groove“ verliert. Irgendwann sind wir dazu übergegangen, allein dem Schlagzeuger den Click zu hören zu geben – und das Problem wurde, nach einiger Gewöhnung, nicht behoben, aber deutlich gelindert (problematisch war auch dann noch, daß jetzt alle gezwungen waren, dem Timing des Drummers bedingungslos zu „glauben“ und jeden Versuch aufzugeben, dieses noch beeinflussen zu wollen).

Auch auf anderen Ebenen hat man aber Probleme, sobald man die Rückkopplungen zwischen aufeinander hörenden Musikern aufbricht. Ein Streicher-Arrangement etwa wird nach wie vor mit einem kompletten Ensemble, in einem Rutsch, aufgenommen, auch wenn die Toningenieure hinterher stöhnen, weil sie die einzelnen Stimmen nicht getrennt bearbeiten können. Es ist schlicht unmöglich, aus Einzelaufnahmen jene Dichte nachträglich zu synthetisieren, die ein komplettes Ensemble intuitiv dadurch erzeugt, daß es „zusammen spielt“. Das betrifft die unbewußte Abstimmung von Spielweisen wie Bogenstrich und Vibrato, von Lautstärken wie Phrasierungen. Jeder Einzelne versucht, im gemeinsamen Klang „aufzugehen“ und zum integralen Bestandteil des Ganzen zu werden. Zum Schluß bekommt man ein Resultat, das mehr ist als die Addition der einzelnen Stimmen.

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