18.8.2008

Körperwissen (6)

(Themenanfang)

Es gibt eine Evidenzerfahrung, die nahezu jeden verblüfft, der mit Musik eher peripher - als interessierter Zuhörer - zu tun hat, aber auch bei vielen ausgebildeten Musikern auf skeptisches Fragen stößt: das Phänomen des "Absoluten Gehörs". Da kann jemand aus dem Nichts heraus sagen, daß gerade ein A-Dur-Akkord erklingt - nicht nur, daß es sich um Dur, nicht Moll, handelt, sondern auch, ganz ohne Zweifel, um A- und nicht As- oder B-Dur. Tatsächlich werden angesichts dieser Fähigkeit selbst jene schwach, die sonst jedes Talent als erlernt und erworben betrachten, nicht jedoch als genetisch vererbt: hier sind sie i.d.R. ratlos, und vermuten dann doch eine angeborene Begabung.

Dies ist nicht der Fall. Absolutes Hören kann man trainieren - und durch mangelnde Pflege auch wieder verlieren.

Zunächst muß man sich klar machen, daß ein absolutes Gehör nicht etwa entweder vorhanden ist, oder überhaupt nicht existiert: es gibt eine ganze Reihe von Graden und Zwischenstufen. Wer ein Instrument selber spielen kann, hat eine gute Chance, zumindest für dieses Instrument exakt den gespielten Ton zu benennen. Auf einer Gitarre z.B. klingen die leeren Saiten anders als jene, auf die ein Finger drückt - und zwar für jemanden, der diesen Unterschied Tag um Tag für Jahre erlebt, völlig zweifellos erkennbar. Damit wird es dann einfach, z.B. einen E-Dur-Akkord, in dem die leere hohe E-Saite mitschwingt, von einem F-Dur zu unterscheiden, in dem jeder Ton von einem Finger gegriffen wird.

Ähnliches kann man bei Streichinstrumenten finden: leere Saiten stechen derart aus dem allgemeinen Klangbild heraus, daß ein "klassischer" Geiger lernt, sie zu vermeiden und möglichst durch denselben, gegriffenen Ton auf der nächst tieferen Saite zu ersetzen. Doch auch diese gegriffene Note klingt anders: sie bekommt, durch die wie immer gedämpft mitschwingende Leersaite, eine unüberhörbare Eigenresonanz. Gleiches gilt für alle Noten, die eine oder mehrere Oktaven über oder unter einer Leersaite stehen: durch Ober- bzw. Untertöne regen sie jene zum Schwingen an, und erzeugen eine ganz eigene, im Verlauf des Umgangs mit dem Instrument immer besser erkennenbare Farbe.

Auch bei den Holz- und - besonders deutlich - Blechblasinstrumenten gibt es solch herausgehobene Töne, und zwar überall dort, wo man es mit einem sog. "Naturton" zu tun hat: das sind all jene Töne, die zu der Obertonreihe des Grundtons eines Blasinstruments gehören. Ein sehr schönes Beispiel für das Funktionieren dieser Art des "absoluten" Hörens findet man dort, wo es versagt: es gibt gelegentlich eine (große) Abweichung von einer Quinte oder Quarte, wenn der Hörer sich in der Grundstimmung des Instruments vertut und etwa eine F-Posaune mit einer in B verwechselt. Dieser Fehler ist sehr typisch gerade für jene, die sonst auf den Halbton genau Auskunft geben können.

Selbst auf einem wohltemperiert gestimmten Klavier gibt es Farben, die sich mit einer bestimmten Tonart verbinden - es-moll klingt, selbst dort, völlig anders als e-moll. Ich kann das nicht näher begründen, vermute aber, daß es beim Stimmen des Instruments ein bestimmtes Vorgehen gibt, das dazu führt, daß letztlich doch keine exakt temperierte Stimmung erreicht wird.

Je mehr Musik man hört, desto selbstverständlicher werden all diese Nuancen - und wenn man damit länger pausiert, tut man sich hinterher genauso schwer wie ein Läufer, dem vernachlässigtes Training die Beine bleiern macht. Auch die jeweilige Tagesform, die für den Abruf aller antrainierten Fähigkeiten eine große Rolle spielt, kommt hier zu tragen: wenn man müde oder aufgeregt ist, kann es einem sowohl das Hören[1] wie auch den Lauf verhageln.

  1. [1] Ich kann mich an die Gehörübungen bei meiner Aufnahmeprüfung für die Musikhochschule erinnern: gewohnt, alles absolut zu hören (und dadurch mit einem ziemlich mittelmäßigen relativen Gehör gestraft), hätte ich sie in der Aufregung fast verhauen.
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