23.4.2011

Themensammlung: Konstruktivismus und Gesellschaftstheorie

(Themenzusammenhang)

Einige mehr oder weniger ungeordnete Notizen.

- 1 -

Es gibt keine Realität ohne Beobachter.

Die Idee, daß es eine „Welt“ „da draußen“ gibt, die auch ohne uns Menschen ganz gut zurecht kommt, und deren objektiv gegebenes Funktionieren man nur immer besser verstehen muß, um es irgendwann vollständig und korrekt zu begreifen, ist letztlich eine metaphysische Konstruktion. Die Abstraktion einer Welt, die auch ohne die Anwesenheit von Menschen besteht, die sie beobachten, ist zwar möglich, aber letztlich inhaltsleer: man kann sie denken, daraus aber keine Rückschlüsse auf jene konkrete Welt ziehen, die uns tatsächlich gegenüber tritt. Mehr noch: man kann diese abstrakte und menschenleere Welt in keiner Weise auf unsere konkrete, von menschlichen Beobachtern beschriebene Welt in Beziehung setzten. Noch mehr: wir wissen über diese Abstraktion nur, daß man sie denken kann. Die Sprache, in der man über sie sprechen kann, kann nicht unsere Sprache sein, weil unsere Sprache der konkreten Welt entstammt.

- 2 -

Es gibt keine Welt ohne Geschichte (das braucht keiner näheren Ausführungen, auch wenn in den Diskursen des Alltags diese simple Tatsache wieder und wieder vergessen wird).

- 3 -

Beobachter, die Gesellschaft (oder soziale Systeme) beobachten, sind selber Bestandteil eben dieser Gesellschaft. Man kann sie als Beobachter erster Ordnung bezeichnen. Man kann solche Beobachter beobachten – das sind dann Beobachter zweiter Ordnung, die z.B. eine Geschichte der Philosophie schreiben und die Philosophien in Bezug auf ihr jeweiliges historisches Bezugssystem setzen.

Es gibt Beobachter, die von außen an ihren Gegenstand herantreten – Anthropologen etwa, die die Ordnung einer Gemeinschaft studieren, der sie selber nicht angehören. Dabei werden sie, mehr oder weniger, mit der Zeit selber Bestandteil des Gegenstands der Untersuchung und dadurch zu Beobachtern erster Ordnung.

- 4 -

Die Wirklichkeit kann von unterschiedlichen Beobachtern beobachtet werden. Dadurch entstehen unterschiedliche Beschreibungen. Diese Beschreibungen unterscheiden sich zuweilen drastisch, ohne daß gesagt werden kann, welche Beschreibung „richtig“ wäre: die Unterscheidung zwischen „richtig“ und „falsch“ liegt nicht im Gegenstand selbst; vielleicht ist dies generell eine Unterscheidung, von der man sich nur wünscht, daß man sie machen könnte.

- 5 -

Es gibt keine Beschreibungen (und damit auch keine Sprache) außerhalb der Einheit von Beobachter und Gegenstand.

(Mehr Material findet sich in meiner Darstellung des Konstruktivismus)

22.4.2011

Über die Konstruktion von Identität (4)

(Themenzusammenhang)

Die Zuschreibung als Mann oder Frau ist natürlich nicht das einzige Kriterium bei der Bestimmung einer Identität, wenn auch die sicherlich wichtigste und folgenreichste. Neben biologischen Bestimmungen über den Körper (dick / dünn, groß / klein, schön / häßlich, klug / dumm, alt / jung, gesund / krank bzw. gesund / behindert) gibt es solche gesellschaftlicher Natur (arm / reich, einflußreich / abhängig, um das nur sehr knapp anzudeuten). Wie bei der Unterscheidung zwischen „Sex“ und „Gender“ macht es m.E. auch hier keinen Sinn, einen Unterschied zwischen Biologie und Gesellschaft zu machen; noch mehr als bei der Differenz der „natürlichen“ und „gesellschaftlich verursachten“ Umstände bei der Bestimmung des Geschlechts sind hier die beiden Ebenen mehr voneinander abhängig, als daß sie prinzipielle Unterschiede aufzeigen. Wer arm ist, wird aufgrund eingeschränkten Zugangs zu gesunder Ernährung und medizinischer Versorgung eher krank, etc.pp.

Interessanter finde ich die Betrachtung, wieweit die unterschiedlichen Kriterien bei der Bestimmung von Identität eindeutig zuweisen, oder eher ausgewaschene Grenzen ziehen. Das Kriterium weiblich / männlich zeigt hier die größte Neigung, etwas wie zwei eindeutige Pole zu beschreiben, obwohl es eine große Zahl von Identitäten gibt, die nicht recht in das Raster passen – dabei stehen die keinesfalls eindeutig zuordbaren sexuellen Präferenzen (hetero-, bi-, homosexuell) nur am Anfang von allen möglichen Übergängen. Andere Kriterien lassen sich eher als Abweichungen von einem – subjektiven und/oder gesellschaftlich gefassten, schon in sich eher schwammigen – „Ideal“ beschreiben. So gibt es ein „normales“ Körpergewicht, von dem „Dicke“ und „Dünne“ abweichen; eine „normale“ Größe, unterhalb derer man „klein“ und oberhalb der man „groß“ ist; etc. Interessant ist noch der Unterschied in den Abweichungen vom „gesunden“ Normalzustand: ist das nur temporär, ist man „krank“, ist es permanent, spricht man von „behindert“; wobei zwischen diesen beiden Ebenen wiederum fließende Grenzen existieren (irgendwann kann eine Krankheit zur Behinderung werden).

Dabei gibt es in der Akzeptanz von Abweichungen unterschiedliche Toleranzen. „Alte“ oder „junge“ Menschen stellen fast schon keine Abweichungen von einer Norm mehr dar, wohl weil jeder Mensch weiß, daß er alle Altersstufen durchlaufen wird (wobei schon mehr als erstaunlich ist, wie die Postmoderne damit beschäftigt ist, ihre Alten auszugrenzen und an den Rand zu stellen). Andere Grenzüberschreitungen verzeiht man leichter (wie z.B. es heute kein Problem ist, wenn junge Frauen ihre Magersucht offen zur Schau stellen), andere schwerer (z.B. - wieder besonders bei Frauen – die Abweichung vom Normalgewicht nach oben, die mit z.T. grotesken Wertungen versehen wird). Besonders massiv trifft es jene, die gegen die grundlegende Differenz verstoßen – wo sich Männer wie Frauen kleiden, oder das Geschlecht eines Körpers durch Operationen und den Einsatz von Medikamenten verändert wird.

Die unterschiedlichen Ideale sind bekanntermaßen historisch höchst unterschiedlich definiert. Dabei ist dies auch für jene Kriterien der Fall, die die geschlechtliche Identität bestimmen. Ein oft gehörtes Argument für die anscheinend naturgegeben Trennung von Frauen und Männern lautet ja, daß die einen schließlich schwanger werden könnten, die anderen nicht – das sei ein Unterschied von so ungeheurer Bedeutung, daß man ihn nicht beiseite schieben könne. Die Bedeutung ungeleugnet, ist sie jedoch keinesfalls fraglos und zu allen Zeiten gleich „groß” und hat die gleichen Folgen. Wenn man etwa einen adligen Grundbesitzer im Mittelalter nach der Bedeutung von Gebärfähigkeit fragt, wird er drei Fälle unterscheiden: die seiner Frau bis zur Geburt des männlichen Erbfolgers; bei den Kindern danach (die immer noch zählt, aber nur noch gewissermaßen zur Ersatzbeschaffung, falls dem Erbfolger etwas zustößt); und die der Mägde auf seinen Höfen (die ihn allenfalls in ihrer Rolle bei der Beschaffung von Arbeitskräfte interessiert). Dem entsprechen drei unterschiedliche Frauenbilder und -rollen. - Nochmal dramatisch anders sieht es aus, wenn man über frühe menschliche Gesellschaften spekuliert, die den Zusammenhang zwischen Geschlechtsverkehr und Schwangerschaft noch nicht kennen.[1] Falls in solchen Gemeinschaften Sprache schon existierte, wird man jede Geburt als unerklärliches Wunder dem Wirken mächtiger Götter zugeschrieben haben – eine völlig andere Zuschreibung als jene, die wir heute als naturgegeben annehmen, und die Rolle der Frauen in solchen archaischen Gesellschaften massiv beeinflußt haben muß.

  1. [1] Vergl. Christoph Türcke: Philosophie des Traums, München 2008.

13.4.2011

Notiz – Wittgenstein

(Zettelkasten: Identität)

[Augustinus sagt]: Die Wörter der Sprache benennen Gegenstände – Sätze sind Verbindungen von solchen Benennungen. – In diesem Bild von der Sprache finden wir die Wurzeln der Idee: Jedes Wort hat eine Bedeutung. Diese Bedeutung ist dem Wort zugeordnet. Sie ist der Gegenstand, für welchen das Wort steht.[…]

Wer das Lernen der Sprache so beschreibt, denkt, so möchte ich glauben, zunächst an Hauptwörter, wie »Tisch«, »Stuhl«, »Brot«, und die Namen von Personen, erst in zweiter Linie an die Namen gewisser Tätigkeiten und Eigenschaften, und an die übrigen Wortarten als etwas, was sich finden wird.[…]

Augustinus beschreibt, könnten wir sagen, ein System der Verständigung; nur ist nicht alles, was wir Sprache nennen, dieses System. Und das muß man in so manchen Fällen sagen, wo sich die Frage erhebt: »Ist diese Darstellung brauchbar, oder unbrauchbar?« Die Antwort ist dann: »Ja, brauchbar; aber nur für dieses eng umschriebene Gebiet, nicht für das Ganze, das du darzustellen vorgabst.«

Es ist, als erklärte jemand: »Spielen besteht darin, daß man Dinge, gewissen Regeln gemäß, auf einer Fläche verschiebt...« - und wir ihm antworten: Du scheinst an die Brettspiele zu denken; aber das sind nicht alle Spiele. Du kannst deine Erklärung richtigstellen, indem du sie ausdrücklich auf diese Spiele einschränkst.

(Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, PU 1-3)

11.4.2011

Nominalismus

Die Wikipedia beschreibt das Grundproblem im sog. „Nominalismusstreit“ (dort bezeichnenderweise unter dem Stichwort „Universalienproblem“ abgelegt) folgendermaßen:

Begriffe haben die Funktion, Gegenstände, Vorgänge oder Eigenschaften zu kennzeichnen. Sie tragen eine Bedeutung, und jedermann wird anerkennen, dass der Satz „Die Rose ist rot.“ auf Wahrheit überprüft werden kann, also sinnvoll ist. Sowohl „Rose“ als auch „ist rot“ (sogenannte Prädikatsausdrücke) können auf mehrere Gegenstände bezogen werden. Allgemeine Anwendbarkeit gilt für alle Begriffe mit Ausnahme von Namen, die ein Besonderes, ein Individuum, vom Allgemeinen unterscheiden sollen.

Das ist die Formulierung des Problems komplett aus universalistischer Perspektive – es herrscht eben keine Einigkeit darüber, daß man prinzipiell objektiv entscheiden kann, ob Sätze wahr oder falsch sind; ebenso wenig wie über die These, daß Begriffe „Dinge” „bezeichen”.

Begriffe haben keine „Funktion“; sie haben eine eigene Wirklichkeit. Sprache ist nicht „bezogen“ auf eine äußere Welt, sondern die einzige Vermittlung zwischen den Menschen und der Welt. Die Welt dort draußen ist nicht etwas, was die Subjekte nur bezeichnen müssen, um ihrer habhaft zu werden – das „dort draußen“ ist keine ausgemachte Sache, über die man nur noch korrekte, „richtige“ Begriffe bilden müßte. Es ist ganz anders: den Subjekten bleibt nichts übrig, als mit Begriffen zu operieren, die sie irgendwie mit Wirklichkeit verbinden, die jedoch einer eigenen Logik folgen. Es gibt keine Objektivität jenseits von Sprache; die Menschen sind zum Sprechen verdammt.

In meiner Definition von Nominalismus (und im Rahmen dieser Definition zähle ich mich selber zum Verein) ist die sog. „objektive“ Wirklichkeit nur eine Möglichkeit; eine Welt knapp vor dem Horizont der Wahrnehmung der Sinne, aber erst hinter dem Operieren von Sprache.

7.4.2011

Über die Konstruktion von Identität (3)

(Zettelkasten)

Ich versuche es mit einem Beispiel, mit der Vorstellung von vier Körpern.

Die erste Figur ist eine kleine (1.60m), dünne (<50kg) Frau, eine Tänzerin. Neben ihr steht ein ebenso kleiner Mann, der auch nicht viel mehr auf die Waage bringt – möglicherweise mit einem Drogenproblem, vielleicht aber auch ein Filmstar aus Hollywood.

Dann gibt es ein Mannsbild wie aus dem 19.Jh. – ein Schlachter, Hafenarbeiter, oder Bauer, knapp zwei Meter groß und mindestens drei Zentner schwer, mit unter Bergen aus Fleisch und Fett versteckten Muskeln. Seine Frau steht daneben, ebenso groß und schwer wie er, kraftvoll von der Praxis harter körperlicher Arbeit.

Diese beiden Paare trennt mehr als sie verbindet. Man könnte beim ersten Hinsehen leicht vermuten, daß man es mit Vertretern zweier verschiedener Spezies zu tun hat hat; daß es sich bei allen Vieren um Menschen handelt, ergibt sich womöglich erst nach einer umständlichen Analyse.

Dennoch scheint es selbstverständlich, daß man diese beiden Frauen, die schon auf der Ebene der Erscheinung ihrer Körper mehr trennt als verbindet, in die eine Schublade steckt, und die beiden ebenso drastisch in ihrem Äußeren unterschiedene Männer in die andere.[1] Die gesellschaftliche Funktion von Tänzerin und Schwerarbeiterin unterscheidet sich komplett voneinander, wobei beide Berufe bestimmte, wenn auch sehr verschiedene körperliche Dispositionen erfordern – hier spielt die „biologische Komponente“ also durchaus eine entscheidende Rolle. Trotzdem sind das, für den „gesunden Menschenverstand”, zuallererst Frauen, beschrieben zuallererst durch ihre Fähigkeit, Kinder zu bekommen. Hier kann man mit Händen fassen, wie die Zuordnung in „Frauen“ und „Männer“ komplett an der konkreten Beschreibung der Körper vorbei geht, und einem Kategoriensystem zu verdanken ist, das noch vor jeder „biologischen“ Zuschreibung zustande kommt.

Nicht nur die Grenze zwischen Gegenständen, die man als „Tische“ beschreibt und jenen, für die man andere Begriffe sucht, ist unscharf am Schwimmen. Auch vermeidlich „natürliche“ Unterschiede sind bei genauerem Hinsehen ausschließlich sprachliche Konstrukte, die keinesfalls in „Natur“ oder „Biologie“ wurzeln.

Beim Unterschied zwischen Frauen und Männern hat man es nicht mit Natur zu tun, sondern allein mit Sprache.

  1. [1] Hier müßte ein langer Exkurs über die vermeidlich biologisch bedingten Eigenschaften folgen, die Männer und Frauen angeblich unterscheiden – aggressive Jäger vs. sorgende Mütter, um dem Thema einen Titel zu geben.

5.4.2011

Über die Konstruktion von Identität (2)

(Zettelkasten)

Wenn ich sage, daß Wirklichkeit konstruiert ist, behaupte ich keinesfalls, daß sie nicht existiert. Es gibt Gegenstände, und sie existieren nicht nur in unseren Köpfen – und ja: es gibt sehr wohl biologische Unterschiede zwischen Männern und Frauen. Nur gibt es keine „objektive“ Wirklichkeit, die wir sehen können – und wenn wir dies könnten, gäbe es in ihr keine Begriffe, damit auch keine Tische oder Geschlechter. Dies sind Konstrukte, die Menschen machen – die sie machen müssen, wenn sie über Wirklichkeit etwas sagen wollen.

Es gibt es keine Wirklichkeit jenseits von Sprache.[1]

Wenn man einen Gegenstand als „Tisch“ bezeichnet, ist dies ein Akt des Sprechens, der diesen Gegenstand von Anderen unterscheidet. Dabei ist nur für den sog. „gesunden Menschenverstand“ klar, was ein Tisch ist. Tatsächlich ist dessen Grenze zu anderen Gegenständen jedoch diffus und jenseits einer eindeutigen Definition.

Manchmal reicht es nicht, wenn man nur das Wort Tisch verwendet – dann muß man von einem Eß- oder Schreibtisch reden, weil der Gegenstand, um den es geht, nicht nur eine physische Gestalt hat, sondern auch in einer bestimmten Weise gebraucht wird.

Aber auch der Begriff für den Gegenstand „an und für sich” läßt sich nicht eindeutig definieren: einen kleinen, niedrigen Tisch muß man vielleicht als „Beistelltisch“ bezeichnen, um klar zu machen, daß dies keine Sitzgelegenheit (ein Hocker) ist; und ein Tisch mit einer Schublade unter der Tischplatte ist nur graduell getrennt von einer Kommode (die dann mehr als nur eine Schublade hat).

Trotz dieser Schwierigkeiten, einen sehr einfachen Gegenstand in der Wirklichkeit sprachlich „in den Griff zu bekommen“ – und obwohl man an dieser Stelle letztlich scheitert –, bleibt gar nichts anderes übrig, als zu sprechen. Man bringt etwas auf „den“ Begriff – und beim „Tisch“ hat die historische Entwicklung der Sprache ergeben, daß dies (in meiner Gegenwart) ein Begriff für Gegenstände ist, die drei oder vier Beine haben; aus Holz, Glas oder Stein hergestellt werden; so groß sind wie ein Konferenztisch oder so winzig wie in einer Puppenstube.

Der Witz liegt darin, daß es in der Wirklichkeit keine Tische gibt – es gibt keine Gegenstände, die „Tisch“ „sind“, es gibt nur das sprachliche Konstrukt „Tisch“. Die Natur hat keine „Namen“ für Gegenstände; und Sprache bezeichnet nicht bloß etwas, was „wirklich“ da ist. In Sprache konstruieren wir die Gegenstände in dem Moment, in dem sie („uns erscheinen”, hätte ich fast gesagt:) werden.

  1. [1] Mir ist klar, daß ich hier die Dinge verkürze.
4.4.2011

Über die Konstruktion von Identität

Der Diskurs des Feminismus läuft immer wieder auf die Frage hinaus, inwieweit das Geschlecht einen Menschen formt. Die – vermeintlich objektive – Wahrnehmung, daß jemand als „Mann“ oder „Frau“ geboren wurde, führt ja zu Rückschlüssen auf geschlechtsspezifische Vorlieben, Handlungsmuster, Bewußtseinsformen, etc., die angeblich auf der Beobachtung einer – ebenso vermeidlich objektiven – Wirklichkeit beruhen.

Ich möchte das gar nicht näher ausführen – ich habe nicht die Absicht, mich etwa gegen die Behauptung zu stellen, daß Frauen prinzipiell eher zu monogamen Beziehungen neigen, weil sie aufgrund ihrer biologischen Funktion auf die Aufzucht ihrer Kinder „programmiert“ sind, während Männer der Natur ihrer „egoistischen Gene“ folgen, und nach Nachwuchs von möglichst vielen Frauen streben (in meinen Augen ist das offenkundiger Blödsinn, auch wenn das noch eines der klügeren Argumentationsmuster ist, wenn man Frauen und Männer aufgrund biologischer Unterschiede trennen – bzw. gegeneinander ausspielen – will).

Festzuhalten wäre, daß solche Argumente komplett ausblenden, daß biologische Unterschiede keine Natur sind, sondern Natur nur beschreiben. Beschreibungen jedoch sind sprachliche Artefakte, Konstrukte. Die Unterscheidung in Frau und Mann ist keine Unterscheidung, die Natur selber hervorbringt, sondern ein Unterschied, den Menschen machen, wenn sie über Natur sprechen.

Auf den ersten Blick klingt das wie eine überzogene Haarspalterei. Für den sog. „gesunden Menschenverstand“ ist Sprache ja nur ein Mittler zwischen der Wirklichkeit und dem Sprecher. Wenn man ein Wort sagt, bezeichnet man etwas, was in der Wirklichkeit existiert. Das Wort „Tisch“ ist, dieser Auffassung zufolge, das sprachliche Gegenstück zu einem physischen Gegenstand, den man in einem konkreten Raum sehen und berühren kann – auf dem man z.B. Teller oder Papiere ablegen kann, und hinter dem man sitzt, um zu essen oder zu schreiben.

Aus der gleichen Sicht scheint es völlig klar, daß jemand, den man als „Frau“ bezeichnet, auch ein Gegenstück in der Wirklichkeit hat: es ist, aus dieser Perspektive, eine unbestreitbare Tatsache, daß es „Frauen“ „gibt“, so wie es „Tische“ „gibt“.

Meiner Meinung nach sollte man sich von dieser Perspektive komplett trennen: sie ist vielleicht nicht völlig falsch, zunächst jedoch ohne jeden Bezug zur Praxis, zur „Realität”.

Von der Wirklichkeit können wir nichts wissen, sondern nur über sie sprechen. Sprache aber beschreibt nicht Wirklichkeit, sondern konstruiert sie. Schon der Begriff des Biologischen ist eine Unterscheidung, die in der Sprache liegt, nicht aber in der Wirklichkeit. Dabei steht es nicht in Frage, ob Sprache real ist, oder ob etwas wie „Realität“ existiert. Menschen können aber über Realität nur sprechen. Die Unterscheidung zwischen „Mann“ und „Frau“ ist ein sprachliches Konstrukt, welches freilich eine derart übermächtige Realität hervorbringt, daß es schwer fällt, auch nur die Annahme zu versuchen, daß es nichts mit „Natur“ zu tun hat.

Ich habe vor, zu versuchen, diese Verschiebungen in der Wahrnehmung konkret zu beschreiben, wobei es letztlich darauf hinausläuft, selbst den Begriff des Natürlichen als Konstrukt zu fassen. Dabei scheint es mir sinnvoll, zuerst das zu beschreiben, was ich als Grundton hinter den feministischen Debatten vermute: die Frage nach den Subjekten; die Suche nach Identität.

2.4.2011

Die Welt spricht nicht. Das tun nur wir. (3)

(Themenzusammenhang)

Kurz, die Bürger meiner liberalen Utopie wären Menschen, die Sinn für die Kontingenz der Sprache ihrer Überlegungen zur Moral und damit ihres Gewissens hätten. Sie wären liberale Ironiker – Menschen[…], die Engagement mit dem Sinn für die Kontingenz ihres Engagements verbinden.

(Richard Rorty. Kontingenz, Ironie und Solidarität. Ff./M.1989. S.111)

Rorty versucht, die Utopie einer Gesellschaft zu entwerfen, die ohne den Rekurs auf „Gewißheiten“ auskommt – sei dies die Vorstellung von einer Wahrheit über die Wirklichkeit, auch wenn diese vielleicht noch nicht erkannt wurde; sei dies die Idee einer absoluten, für alle Menschen und zu allen Zeiten gültigen Moral.

In Rortys Philosophie spielt Sprache die zentrale Rolle, denn die Welt als solche kann nicht „wahr“ sein - Bewertungen wie „richtig“ oder „falsch“ sind immer Beschreibungen, Sprechakte. Dabei ist Sprache kein Mittler zwischen den Sprechenden und der „objektiven“ Welt – sie „gehört“ allen Sprechern, und entsteht und verändert sich in den Akten der Kommunikation. „Sprache“ ist keine Darstellung von etwas außerhalb von Sprache selbst, sondern ein Werkzeug, mit dem wir unsere Vorstellung von Wahrheit konstruieren.

Sprache ist kontingent. Sie hat keine eindeutige Struktur, die zu allen Zeiten gleich bleibt. Sie verändert sich zwar nicht beliebig, sondern bezieht sich immer auf ihre eigenen Historie. Wenn sich aber neue Metaphern oder neue „Vokabulare“ ausbilden, sind die Auswirkungen auf die Wirklichkeit unvorhersehbar.

„Ironiker“ schließlich sind Menschen, die um die Kontingenz ihrer eigenen Wahrheiten wissen, dennoch an ihnen festhalten. Für einen Liberalen im Sinne Rortys steht Moralität nicht für die Gewißheit, was richtig und falsch ist, sondern für die Hoffnung, „daß Leiden geringer wird, daß die Demütigung von Menschen vielleicht aufhört“. (AaO, S.14)


(Seite 2 von 17 / 133 Einträge)