21.8.2008

Soldat und Buddha (Körperwissen - Weiterführung)

(Themenanfang)

Der entscheidende Unterschied im Zurücktreten der Vernunft beim Erleben des eigenen Körpers im einen, im Rausch im anderen Fall besteht darin, daß man im ersten immer noch handelt, wo man im zweiten nur noch passiv sich treiben läßt. Gemeinsam ist jedoch der Versuch, sich dem Leiden an der Individuierung zu entziehen. Tatsächlich scheint mir das Erlebnis des "Flow", das viele Ausdauersportler beschreiben, als Aufgehen des bewußten "Ich" in die Tätigkeit des Körpers ähnliches zu bewirken, wie etwa Meditation auf der Suche nach der Welt "hinter" dem eigenen Ich.

Motorsport und Drogenrausch, Langlauf oder Meditation - für diese beiden Seiten läßt sich jeweils ein Prototyp nennen. Auf der einen Seite findet sich der Soldat, dessen Handeln überhaupt nicht funktionieren kann, ohne daß die Kontrollinstanz der Vernunft gründlichst möglich ausgeschaltet wäre. Auf der anderen Seite steht der Gott in seinem Inneren suchende Mystiker - der aus einem völlig anderem Motiv das lenkende "Ich" ablehnt - oder, um es auf ein Wort zu reduzieren: der Buddha.

Wenn man Soldat und Buddha als Pole anschaut, fällt als erstes ihre diametral unterschiedliche Verbundenheit mit der menschlichen Gesellschaft ins Auge. Wo die Gestalt des Buddha den denkmöglichst weitesten Abstand zu ihr definiert, ist der Soldat ihr soweit verbunden, ja eingebrannt, daß er ohne sie nicht exisitiert, wie sein Handeln auch nur gesellschaftliche Auswirkungen hat (dabei ist es bloß ein ungewollter Nebeneffekt, daß er, als Individuum, physische und psychische Wunden davon trägt - ebenso übrigens, wie das Entstehen von Religion, als Folge für Gesellschaft, angesichts des Wirkens eines Heiligen).

Wenn Vernunft vom Krieger beiseite geschoben wird, weil er die Gesellschaft mit physischer Gewalt zu verändern sucht, verneint sie der Mystiker, weil sie ihn daran hindert, Zugang zum göttlichen Kern zu finden. Die Abkehr vom bewußten "Ich" bewirkt also zwei kraß voneinander unterschiedene Dinge: die Vernichtung menschlichen Lebens, wie dessen Überhöhung in Spiritualität und Glauben.

Eigentlich nimmt man an, Vernunft wäre das Werkzeug, mit dem der Mensch sein Handeln hinterfragt und steuert; nur der könne frei sein und über sich selbst bestimmen, der sich selber kennt und über sein Tun reflektiert [1]. Von diesem Optimismus ist nicht mehr viel übrig geblieben [2]; dennoch bin ich überrascht, wie man mit einem phänomenologischem Ansatz - oder letztlich einer Beobachtung von Alltagsphänomenen - über derart grundsätzliche Widersprüche stolpert.

  1. [1] "Ich weiß, wer ich bin", das sagte Alfred Döblins Franz Biberkopf bekanntlich schon im Berlin der zwanziger Jahre - und ging unter, weil er verkannte, daß er nur ein Rädchen ist im Getriebe der Stadt.
  2. [2] Spätestens Adornos Deutung des Faschismus als notwendiges Umkippen der Aufklärung in ihr Gegenteil beseitigte davon noch den letzten Rest.
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